Schattenreiche Architektur des Weltwissens

Fiona Tan, Shadow Archive I–IV, 2019
Fotogravüre, je 28,5 × 37,5 cm, Edition von 12 + 3 AP; Serie von 4, gedruckt von Niels Borch Jensen Editions, hrsg. von BORCH Editions © the artist, Courtesy BORCH Editions, Kopenhagen/Berlin

Reihenweise zirkulär angeordnete Archivschränke aus Holz, scheinbar bis in alle Unendlichkeit fortlaufend – kein Ziel und kein Ende in Sicht. Durch eine prachtvolle Glaskuppel, die über den unzähligen Zettelkästen thront, dringt Tageslicht in den ansonsten düster wirkenden Raum. Helle Sonnenstrahlen beleuchten die träge, staubige Luft und werfen lange Schatten auf das in die Jahre gekommene Inventar. In regelmässigen Abständen befestigte Pendelleuchten an langen Kabeln, mehrere Oberlichter sowie grosse Rundbogenfenster sorgen für weiteren Lichteinfall. Schreibtische mit darauf gestapelten Büchern weisen darauf hin, dass hier gearbeitet wird. Das Archiv ist jedoch menschenleer. Ein Stuhl liegt umgekippt am Boden, als wäre der Ort fluchtartig verlassen worden. Es ist eine eigentümliche, gar unheimliche Stimmung, die in der Luft liegt. Dazu mischt sich ein latentes Gefühl der Desorientierung, das durch die enormen räumlichen Dimensionen und die sich ewig wiederholenden Schrankreihen hervorgerufen wird.

Von der Utopie einer zentralen Weltenzyklopädie
Die post-apokalyptisch anmutende Szenerie wurde von der in Indonesien geborenen und heute in Amsterdam lebenden Künstlerin Fiona Tan (*1966) erschaffen. Als Vorbild diente das um 1900 von den beiden Belgiern Paul Otlet und Henri La Fontaine ins Leben gerufene Mundaneum. Mit ihrem ambitionierten Archivierungsprojekt, dessen Überreste sich heute in der Stadt Mons befinden, verfolgten sie kein geringeres Ziel, als das gesamte Wissen dieser Welt systematisch zu katalogisieren und unbeschränkt nutzbar zu machen. Otlet arbeitete über dreissig Jahre lang unermüdlich an der Umsetzung dieses ehrgeizigen Plans. Mithilfe eines Klassifikationssystems wurden Millionen von genormten Karteikarten handschriftlich angefertigt und in grossen Holzschränken abgelegt. Das Mundaneum, mitunter als «Papier-Google» bezeichnet, wird heute als Meilenstein in der Datensammlung und -verwaltung angesehen. Trotz der Problematik eines zentralisierten Wissensspeichers sowie der Skepsis, die angesichts der Ausmasse einer globalen Enzyklopädie aufkommen muss, schien Otlet keine Zweifel an der Realisierbarkeit seines Vorhabens zu hegen. Er ging von einem finiten Umfang des menschlichen Wissens aus, entsprechend liesse sich dieses in einer stabilen Architektur unterbringen.

Fiona Tan, Shadow Archive V–VI, 2019
Fotogravüre, je 78 × 100 cm, Edition von 12 + 3 AP; Serie von 2, gedruckt von Niels Borch Jensen Editions, hrsg. von BORCH Editions © the artist, Courtesy BORCH Editions, Kopenhagen/Berlin

Digitale Bildwelten, analog gedruckt
Das von Fiona Tan aufgebaute, fiktive Gebäude mit rundem Grundriss soll das analoge Weltarchiv, dessen Ursprung in einer längst vergangenen, beinahe vergessenen Zeit zu liegen scheint, neu beherbergen. In ihrem Shadow Archive wird das utopische Vorhaben jedoch in eine dystopische Szenerie überführt. Entstanden sind zwei Serien von insgesamt sechs Fotogravüren, die 2019 von der Graphischen Sammlung ETH Zürich angekauft wurden. Die mithilfe eines Computerprogramms digital konstruierten Bilder wurden hierbei durch ein fotomechanisches Tiefdruckverfahren auf Papier übertragen, womit Verhältnisse von analog und digital, von Realität und Fiktion nicht nur inhaltlich, sondern auch in technischer Hinsicht verhandelt werden. Die Verwendung der Heliogravüre, auch Sonnendruck genannt, ermöglicht es, feine Halbtonschritte zu drucken und damit nicht nur die besonderen Lichtverhältnisse im fiktiven «Schattenarchiv» wiederzugeben, sondern auch eine bemerkenswerte Tiefenwirkung zu erzielen, die uns immer weiter in die Bildwelten eintauchen lässt. Durch die leichte Körnigkeit des Drucks scheinen wir die staubige Luft des imaginären Raums förmlich einatmen zu können, während die Materialität des Büttenpapiers die physischen Inhalte der fiktiven Zettelkästen spürbar macht und der Arbeit nicht zuletzt eine sehr haptische Qualität verleiht.

 


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