… als die Gletscher noch wuchsen
Der Winter 2019/20 geht als einer der wärmsten in die Geschichte ein. Mit Besorgnis wird festgestellt, dass auch die Eismassen der Gletscher schmelzen. Das war nicht immer so. Während der «Kleinen Eiszeit» wuchsen die Gletscher, wie man auch anhand der Zeichnung des Schweizer Hochgebirgsmalers Caspar Wolf (1735-1783) gut nachprüfen kann.
Faszination Hochgebirge
Das waren andere Zeiten! Ungefähr zwischen 1300 und 1860 herrschte eine kühle Klimaperiode, die sogenannte «Kleine Eiszeit». Die Menschen mussten sich damals nicht um schmelzende Gletscher sorgen. Im Gegenteil: Die Eismassen konnten sogar gefährlich werden und durchaus so weit vordringen, dass ihre Zungen Bauernhöfe oder ganze Dörfer zerstörten. Auch der Untere Grindewaldgletscher dehnte sich im späten 18. Jahrhundert bis fast in die Ortschaft aus. Seine beeindruckenden Ausmasse zog viele Interessierte an. Er war damals der bekannteste und meistbesuchte Gletscher des gesamten Alpenraums. Einer, der sich ebenfalls mit ihm beschäftigte, war der Schweizer Künstler Caspar Wolf.
Wolf gilt als Pionier der Hochgebirgsmalerei – und das verlangte eines an Kondition von ihm, denn um die Berge festzuhalten, musste er sie besteigen. Der Berner Buchdrucker und Verleger Abraham Wagner (1734-1782) sowie die Naturforscher Albrecht von Haller (1708-1777) und Jakob Samuel Wyttenbach (1748-1838) hatten Wolf mit ihrer Bergbegeisterung angesteckt. Sie alle interessierten sich für die Erforschung der Alpenwelt und führten Wolf in ihren Entstehungsprozess und ihre Tektonik ein. 1773 machten sich die drei Männer zum ersten Mal gemeinsam in die Berge auf. Auf ihren vielen Expeditionen wollten sie die Vor- und Hochalpen systematisch erforschen und bald auch bildlich festhalten.
Ein lukrativer Auftrag
Ein Jahr nach der ersten Wanderung fragte Wagner beim Künstler an, ob er die Alpen in seinem Auftrag malen würde. Er hatte ihn ausgesucht, weil er Wolf als einzigem zutraute, sowohl topografisch korrekte wie auch künstlerisch hochwertige Werke anzufertigen. Wolf nahm an und erhielt so einen mehrjährigen Auftrag. Das Unternehmen war zeitraubend und kostspielig, da es wichtig war, die Berge vor Ort zu festzuhalten. Zwischen 1774 und 1778 durchwanderte der Künstler die Gebirgszüge und fertigte Zeichnungen und Ölskizzen an. Dabei entstand auch dieses Blatt, das den Unteren Grindelwaldgletscher festhält. Gekonnt und mit grosser Genauigkeit hat der Künstler die Eismassen vor dem Bergmassiv aufs Papier gebracht. Auch wenn die gewählten Farben zart sind, vermitteln sie sehr gut die Mächtigkeit des Gletschers. Mit der Figur und ihrem Hund im Vordergrund, die im Verhältnis winzig klein erscheinen, betont er seine Grösse zusätzlich.
Aufgrund solcher Zeichnungen fertigte Wolf anschliessend in seinem Atelier knapp 200 Ölbilder in ähnlichem Format an. Sein Auftraggeber, Abraham Wagner, zeigte alle diese Werke in seinem Berner Haus. Kunstinteressierte konnten sie auf Voranmeldung besichtigen. Die Gemälde waren von Wagner allerdings nicht für den Verkauf bestimmt, und sie wurden in der Tat erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder bekannt. Die Bilder dienten Wagner unter anderem als Stichvorlagen für die «Merkwürdige Prospekte von den Schweizer-Gebürgen und derselben Beschreibung», die der Verleger 1776/77 zum ersten Mal herausgab.
Inzwischen werden Wolfs Bilder aufgrund ihrer Genauigkeit auch von Glaziologen als eine wichtige Quelle beigezogen. Auf diesem Blatt hier haben die Forschenden aufgrund der spezifischen Eisformationen herauslesen können, dass der Untere Grindelwaldgletscher in den 1770er-Jahren noch am Wachsen war.
Dieses und weitere Werke von Caspar Wolf sind im Sammlungskatalog Online der Graphischen Sammlung zu finden: www.e-gs.ethz.ch