Am Entschwinden

Irene Kopelman, Fragments from Aletschgletscher, 2013, 5-teilige Zeichnungsserie, Bleistift auf Papier, je 21.0 x 29.6 cm, Inv.-Nr. 2018.60.5; Graphische Sammlung ETH Zürich / © Irene Kopelman

Auf Forschungsreise

Seit 2002 begleitet Irene Kopelman immer wieder Fachleute auf ihren Forschungsreisen. Sie taucht in deren Spezialgebiet ein, tauscht sich intensiv mit ihnen aus und verbringt gemeinsame Zeit auf Expeditionen. Auf solchen Reisen erfährt sie, wie die Landschaft analysiert und katalogisiert wird. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zeigen ihr, wie man gewisse Strukturen, Veränderungen und Verschiebungen erkennt. Denn: Kopelman will wissen, warum eine Landschaft so aussieht wie sie jetzt aussieht. Sie möchte erfahren, welche Ereignisse zu gewissen Formen geführt haben. Im Austausch lernt die Künstlerin, wie sie es nennt, «die Landschaft zu lesen» und Spuren von etwas zu entziffern, das sich schon vor langer Zeit ereignet hat. Die Künstlerin beschäftigt sich dabei auch mit den Einflüssen, die der Mensch auf ein Gebiet hat – mit dem Anthropozän.

Irene Kopelman, Fragments from Aletschgletscher, 2013, 5-teilige Zeichnungsserie, Bleistift auf Papier, je 21.0 x 29.6 cm, Inv.-Nr. 2018.60.1-2; Graphische Sammlung ETH Zürich / © Irene Kopelman

Mittendrin

Eine der Forschungsreisen hat Kopelman auf den Aletschgletscher geführt. Auslöser für die Beschäftigung mit dem «Ewigen Eis» war ein Stipendium der Stiftung Laurenz-Haus Basel von 2012-13, das ihr eine intensive Zusammenarbeit mit dem «World Glacier Monitoring Service» und dem «Institut für Schnee und Lawinenforschung» ermöglichte. Der Aletschgletscher – er gehört zum UNESCO-Welterbe und ist mit 11 Milliarden Tonnen Eis der grösste Alpengletscher – zieht jedes Jahr mehrere Tausend Touristinnen und Touristen an. Sie sind tief beeindruckt von seiner Grösse. Trotz seiner mächtigen Ausmasse ist die Künstlerin nicht daran interessiert, ihn als etwas Erhabenes aus sicherer Distanz zu betrachten. Sie geht stattdessen mitten hinein und begleitet die Glaziologinnen und Glaziologen auf ihren Erkundungstouren. Das heisst, sich dem Rhythmus des Erforschens anzupassen. Das heisst aber auch, das Wetter und die Strapazen auszuhalten. Mit dabei hat Kopelman stets Bleistift und Papier, denn sie zeichnet im Freien vor der Natur.

Irene Kopelman, Fragments from Aletschgletscher, 2013, 5-teilige Zeichnungsserie, Bleistift auf Papier, je 21.0 x 29.6 cm, Inv.-Nr. 2018.60.3-4; Graphische Sammlung ETH Zürich / © Irene Kopelman

Nur noch Strukturen

Genauso wichtig wie der Austausch mit Fachleuten ist für Kopelman die sinnliche Wahrnehmung. Sie schaut den Gletscher lange und genau an, betrachtet seine Ströme und seine Strukturen aus unterschiedlichen Standorten. Auch geht sie immer wieder zurück (manchmal allein), bis ihr eine besonders auffällige Stelle in den Blick fällt. Dieses Element bannt sie in haarfeinen Linien aufs Papier – und trotzt dabei dem zuweilen garstigen Wetter. Wie die Zeichnungen beweisen, ist der Aletschgletscher als Ort nicht mehr zu erkennen, da Kopelman weder auf eine detaillierte wissenschaftliche Zeichnung noch auf eine naturalistische und umfassende Darstellung abzielt. Stattdessen bewegen sich die fragil wirkenden Fragmente an der Nähe zu Abstraktion. Kopelman isoliert ihr Sujet und bringt es losgelöst von seinem Kontext auf das weisse Papier. Die Motive wirken zuweilen wie Skelette oder gar wie Hüllen eines Reptils, das sich soeben gehäutet hat. Man hat das Gefühl, dass das Dargestellte im Begriff ist zu Entschwinden, so fein und reduziert hat die Künstlerin alles gezeichnet. Wie übriggebliebene Reste liegen die Strukturen auf der weissen Fläche Papier und spiegeln gleichsam den dramatischen Schwund der Eismassen. Denn: So eindrücklich der Aletschgletscher auch ist, in den letzten zwanzig Jahren hat sich seine Zunge um rund einen Kilometer zurückgezogen, wie ETH-Forschende im Jahr 2019 berechneten.


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