Camille Corot und das Cliché-verre

Ein junges Mädchen, mit dem Rücken zu uns, steht unter einem Baum. Den Blick leicht nach oben gerichtet und den rechten Arm erhoben, so, als würde sie jemandem in der Ferne zuwinken. Rechts von ihr kauert eine in Tuch gehüllte Gestalt mit kahlem Schädel: der Tod.

Jean-Baptiste-Camille Corot (1796 – 1875), La jeune fille et la mort, 1854Cliché verre, 20.7 × 16.5 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich, Inv.-Nr. D 1078

Das Blatt «Das Mädchen und der Tod»
1854 schuf Camille Corot dieses Blatt mit dem Titel «Das Mädchen und der Tod», indem er die tragische Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike aus den Ovid «Metamorphosen» darstellte: Über den plötzlichen Tod der geliebten Ehefrau Eurydike verzweifelt, steigt Orpheus in die Unterwelt, um durch Musik den Gott Hades zu überzeugen, ihm seine Geliebte zurückzugeben. Sein Wunsch wird ihm bejaht, allerdings unter der Bedingung, sich bei der Rückkehr durch die Unterwelt nicht nach Eurydike umzusehen. Doch Orpheus zweifelt, dreht sich um und verliert Eurydike für immer. Corot versetzt das von Ovid in den Metamorphosen beschriebene Reich der Toten in einen weitläufigen Waldhain. Düster und unerreichbar erscheinen die Bäume im Hintergrund des Bildes, denn wir blicken auf die Eurydike aus der Sicht der Unterwelt. Sie winkt ihrem für immer verlorenen Geliebten nach. Alles ist erloschen, ihre elegante Bewegung jäh erstarrt und die ganze Szene in ein weiches und diffuses Licht getauft.

Das hybride Medium des Cliché-verre
Corot hat für das Motiv der Welt des Orpheus ein adäquates Ausdrucksmittel gefunden: das Cliché-verre. Mit diesem Begriff wird ein hybrides Verfahren aus den späten 1830er Jahren bezeichnet, das die Techniken der Zeichnung und Radierung mit der Fotografie kombinierte. Seine kurze Blütezeit erlebte das Cliché-verre in den 1850/60er Jahren in Frankreich, als es von den französischen Landschaftsmalern in Arras und später in der Künstlerkolonie Barbizon eingesetzt wurde. Effizientere Methoden der Bildproduktion verdrängten bald das Cliché-verre, bevor es sich durchsetzen konnte. Zudem wurde es, weil es einen fotografischen Reproduktionsvorgang enthält, nicht als gleich wertvoll angesehen wie die Originalgraphik, zu der etwa der Kupferstich oder die Radierung zählt.

Das Grundverfahren des Cliché-verre basiert auf der manuellen Herstellung eines Negativs: eine durchsichtige Glasplatte wird in unterschiedlicher Weise bearbeitet, anschliessend auf ein lichtempfindliches Papier gelegt und belichtet; das Ergebnis ist ein kameraloser fotografischer Abzug. Für die Bearbeitung der Glasplatte hatten sich im 19. Jahrhundert zwei Techniken etabliert: Das Linienverfahren, bei dem die Glasplatte – die man oft auf einen dunklen Hintergrund legte – mit einer hellen, lichtundurchlässigen Schicht bedeckt wurde. Darauf konnte man mit verschiedenen Instrumenten, etwa einer Radiernadel, zeichnen. Die so gezogenen Linien machen die Glasplatte partiell lichtdurchlässig und damit belichtbar. Seltener kam das Tonverfahren zum Einsatz, bei dem mit einem Pinsel unterschiedlich stark deckende Schichten Ölfarbe auf die Glasplatte aufgetragen wurden, was die Wiedergabe von Tonalitäten ermöglichte.

Camille Corot, Les arbres dans la montagne, 1856, Cliché-verre auf Velin, 20.1 × 16.3 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich, Inv.-Nr. 2021.93

Im Schattenreich der Linie
Corot`s Auseinandersetzung mit dem Cliché-verre fällt in einen entscheidenden Moment seiner Karriere, als er sich von der Tradition der klassizistischen Malerei im Jahr 1853 abwandte. Seine rund 70 Clichés-verres zeigen französische und italienische Landschaften sowie mythologische und biblische Szenen und bilden die grösste zusammenhängende Werkgruppe, die im 19. Jahrhundert in diesem Medium entstanden ist. Das neue Verfahren bot dem Künstler ein einzigartiges Vokabular aus atmosphärischer Unschärfe und vibrierender Linienführung. Der Tiefenraum bleibt öfters unbearbeitet und nur zu erahnen. Die Blätter sind durch eine schnelle, schwungvolle Strichführung mit einander überlagernden Schraffuren und freien, ungestümen Linien gekennzeichnet. Einige, wie zum Beispiel das vor kurzem von der Graphischen Sammlung erworbene Blatt «Bäume im Gebirge» (1856), muten fast abstrakt an. Wie der skizzenhafte Charakter seiner vielen Clichés-verre Blätter verrät, bewog ihn genau der freie Zeichenduktus und die leichte Handhabung dazu, sein Leben lang auf der Glasplatte zu arbeiten.

Camille Corot, Sounvenir d`Ostia, 1855, Cliché-verre auf Salzpapier, 27.4 × 34.4 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich, Inv.-Nr. D 1577

Dieses und weitere Cliché-verre von Corot sowie von anderen Künstlern lassen sich ausführlicher im Sammlungskatalog der Graphischen Sammlung bewundern.


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