Die Bibliothek als Wissensraum? Érik Desmazières’ Reflexionen über Raum und Zeit

In seinem Schaffen greift Érik Desmazières immer wieder die Bibliothek und das Archiv als Motiv auf. Sein Werk «La salle Labrouste de la Bibliothèque Nationale» weist dabei einen unmittelbaren Bezug zur Bibliothek und ihrer Räumlichkeit auf: Im Fokus steht die Architektur, wodurch die Leserschaft zu kaum erkennbaren Statisten reduziert wird. Demgegenüber nimmt der Raum in «L’Archiviste» eine ganz und gar metaphorische Rolle ein.

Erik Desmazières, La Salle Labrouste de la Bibliothèque Nationale, 2001, Radierung, Aquatinta und Roulette auf Velin [BFK Rives], 80.0×114.5 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich / © 2022, ProLitteris, Zurich

Es ist kein Zufall, dass sich der so oft verhöhnte «Bücherwurm» in Carl Spitzwegs romantischem Ölgemälde im Archivar Desmazières’ spiegelbildlich wiederfindet; die Bücher in den reich verzierten Holzgestellen sind ausgetauscht gegen vertikal und horizontal orientierte Aktenordner und Schubkästen in schlichten Regalen. Doch während der «Bücherwurm» völlig fasziniert in einem Buch liest und zugleich noch weitere in der anderen Hand hält oder gar zwischen seine Arme und seine Knie geklemmt hat, ordnen die Hände des Archivars die Schubkästen und Ordner im Regal. Die tiefe Versenkung in Inhalte hier – die distanzierte Hand der ordnenden Gestaltung dort.

Wissen und Raum
165 Jahre trennen die beiden Werke. Spitzwegs und Desmazières’ Kunstwerke weisen von zwei verschiedenen Seiten hin auf die Themen Inhalt und Ordnung, auf Wissen und Raum. Und damit auf den Wissensraum, der so oft und in jüngster Zeit vermehrt mit der Bibliothek als solcher assoziiert wird. Dabei reden wir heute nur allzu leichtfertig über Wissensräume, ohne deren philosophische Dimensionen und topische Verortung im Prozess der Erkenntnisgewinnung von Wissenschaft und Forschung in Verbindung zu bringen und auszubuchstabieren. Denn genau hier treffen sich Forscher/innen, Bibliothekar/innen und Archivar/innen wieder: Wo sich Kenntnis und Erkenntnis gegenseitig bedingen, beginnen sich Räume leibhaftig in Wissen zu verwandeln.

Erik Desmazières, L’archiviste, 2015, Radierung, Roulette und Aquatinta auf Velin, ca. 26.1×19.6 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich / © 2022, ProLitteris, Zurich

Grenzenlos und unendlich
Wissenschaft füllt Wissensräume also mit Erkenntnis aus: Es ist die Sehnsucht nach der Einsicht des Uneinsehbaren. Wissensräume werden dem nicht gerecht, wenn sie abgeschlossene Magazine bleiben, Archive ohne Ausgang mit blosser Ordnung, Bibliotheken und Lesesäle ohne Erkenntnissehnsucht. Wissensräume geraten nur dann zu Erkenntnisräumen, wenn sie grenzenlos, unendlich und unabgeschlossen gedacht werden. Sobald sie jedoch zu Lernräumen und Funktionseinheiten abgewertet werden, sind sie nur noch ein schwacher Abglanz der Idee universaler Erkenntnismühen.

In der Welt der Archive und Bibliotheken zeichnen sich die Umrisse eines Wissensraums ab, ohne diesen konkret bestimmen oder vermessen zu können, denn Wissensräume sind nicht mehr messend zu erfassen und verlassen die perspektivische Raumdisposition dann, wenn der Inhalt die Ordnung übernimmt. Denn Ordnung kann niemals die Antizipation der Erkenntnis sein, sie ist aber die Voraussetzung dafür, dass Erkenntnis sich ereignen kann, da sie die unübersehbare Fülle greif- und begreifbar macht. Dennoch muss sie im Erkenntnisprozess überwunden werden, denn Erkenntnis ereignet sich im Forschen, sie vollzieht sich weder in der schönen Ordnung des Archivs noch in der Ausleihe von Büchern und dem Zugriff auf E-Journals. So wie Erkenntnis und Wissen niemals als abgeschlossen gelten können, muss der Wissensraum immer in Auflösung begriffen sein. Denn der starre Wissensraum ist das Gegenteil einer erkenntnisstiftenden Bibliothek der Potenziale und Irritationen, das Gegenteil einer Institution schöpferischer Kraft und nicht vorhersehbarer Einsichten. Nur wenn sich Bibliotheken im Spagat des reinen Rationalismus der Literaturversorgung und dem Bemühen um Ästhetik, Emotion und Erkenntnis versuchen, entstehen im Direktkontakt mit der Bibliothek und ihren Büchern, in der Begegnung mit der Bibliothek als erlebtem Raum im Gedränge Einsichten und in der Konfrontation Erfindungen. Die Bibliothek ist dann kein Wissensraum (und längst keine Institution) mehr, wenn sie sich selbst reduziert auf eine Ansammlung von Dienstleistungen in funktionellen Einheiten, denn Dienstleistungen selbst produzieren noch keinen Erkenntnisgewinn.

Érik Desmazières hat in seiner Graphik «L’Archiviste» einen Ausweg aus dem starren Raum der vorhersehbaren Ordnung gewiesen: Links im Bildhintergrund geht es weiter, das starre Regalsystem ist aufgebrochen und eine Tür zur Erkenntnis steht auf – zumindest einen Spalt, durch den die Flucht des Geistes aus der ordnenden Systematik des Archivs in einen wahren Wissensraum gelingt: Zur Unberechenbarkeit, Zufälligkeit, zum spontanen Ereignis der sich ereignenden Erkenntnis.

 


Kommentare

  1. Ulrich Walder

    Sehr geehrter Herr Dr. Ball,
    eine ausgezeichnete Analyse dessen, was eine der Wissenschaft und der Gesellschaft dienende Bibliothek darstellen sollte. Die Gefahr, dass die Wissenschaft und deren bereits vorhandenes Wissen, nur noch als intellektuelle Abraumhalde betrachtet werden, ist heute grösser den je. In der schnelllebigen, durchdigitalisierten und nur noch am Profit gemessenen Lebenswelt, sollten sich Bibliotheken viel aktiver in aktuelle Diskurse einbringen.
    Leider sehe ich in der ETH Bibliothek (zu)wenig Anstrengungen dazu. Form vor Inhalt scheint das Motto zu sein und wurde mir im Zusammenhang mit meiner eigenen Bibliothek drastisch vor Augen geführt.
    Ulrich Walder

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