Eine vieldeutige Linie

Einfache Linien aus Bleistift ziehen sich über das Papier. Die Werkserie Desire Lines des Künstlerduos Baltensperger + Siepert weckt viele Assoziationen. Vielleicht denkt man an abstrakte Kunst oder erinnert sich an den Streit in der Académie royale, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts stattfand.

Graphische Sammlung ETH zürich-Desire-Lines_Tibet - Zurich

Baltensperger + Siepert, Wumatangxiang – Zürich, Blatt 8 aus «Desire», 2013/2014, Kreide auf Velin,
29.6 x 42.0 cm (Blattgrösse), Inv. – Nr. 2016.140.8, Graphische Sammlung ETH Zürich

Während die einen damals die Farbe bevorzugten, verteidigten die anderen klar die Linie. Möglicherweise verbindet man auch nur die willkürliche Kritzelei von Kindern mit den simplen Strichen. Wo eine Signatur zu erwarten wäre, findet man stattdessen zwei Ortschaften, eine Zeitspanne, ein Datum: Wumatangxiang – Zürich, 8 Wochen, 2012. Die sorgfältig platzierten Worte sind die Indizien, die den Betrachter / die Betrachterin zum Entstehungshintergrund der Zeichnungen führen. Die Künstler baten Asylsuchende, die Route von ihrem Heimatsort in die Schweiz auf einem über eine Landkarte gelegten Blatt nachzuzeichnen. Sobald das Papier von der Karte entfernt wird, löst sich die Linie vom Kontext. Was bewirkt dieser Prozess der Reduktion?

Eigene Distanzen
Ein einfacher Strich repräsentiert hier den langen Weg der Flucht und die damit verbundene Hoffnung auf ein besseres Leben. Auch wenn alle dieselbe Aufgabenstellung hatten, enthalten die zurückgelegten Distanzen eine sehr subjektive Dimension: So zog beispielsweise eine Person die Strecke zu Fuss nicht gemäss der definierten Distanz auf der Karte nach, da sie ungemein beschwerlicher und zeitintensiver was als das Teilstück, das sie im Flugzeug zurücklegte. Die Fussstrecke ist aufgrund der strapaziösen Erfahrung überproportional lang gezeichnet.

Eigene Überlegungen
Zudem scheint uns die individuelle Strichführung die Person hinter der Linie näher zu bringen. Einmal bestimmt und zielstrebig, dann wieder unsicher und mehrmals radierend. Die formale Ästhetik der abstrakten Linie verbindet sich mit dem persönlichen Schicksal von Menschen. Baltensperger + Siepert zeigen nichts von den langen Gesprächen, die sie mit den Asylbewerbern geführt haben und auch keine Bilder der Flüchtlinge wie wir etliche in Tagesschauen und Sonntagzeitungen gesehen haben. Alles was bleibt ist eine Linie. Dadurch vermeiden sie es, das schwere Los von Personen in der Not auszuschlachten oder gar blosszustellen. Alles ist reduziert auf ein Blatt, einige wenige Linien, zwei Orte, eine Zeitspanne und ein Datum. Doch tut sich gerade in dieser Reduktion, im Weglassen von persönlichen Details ein weiter Raum auf, der nachdenklich stimmt. Ein Raum für eigene Überlegungen.

Bis zum 17. April 2017 waren die Werkserien Desire Lines und Imaginary Landscapes von Baltensperger + Siepert in der Ausstellung «Ewige Gegenwart» in der Graphischen Sammlung ETH Zürich zu sehen.


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