Gefährdetes Sehen: Anton Graffs Selbstbildnis vom 31. Dezember 1810

Gefährdetes Sehen: Anton Graffs Selbstbildnis vom 31. Dezember 1810
Beim Betrachten des Selbstporträts von Anton Graff (Abb.1) wird der Blick unweigerlich gefangen genommen von der Augenpartie des Dargestellten, deren forschender Ausdruck durch das eigentümliche Aussehen des linken Auges an irritierender Intensität noch gewinnt. Dieses scheint vergrössert und leicht nach oben zu schielen, ausserdem ist am Unterlid ein scheibenförmiger Auswuchs zu erkennen. Ekhart Berckenhagen bemerkte diesbezüglich im Werkverzeichnis von 1967, das linke Auge wirke erloschen.1 Tatsächlich nannte sich Graff 1802 in einem Brief an den befreundeten Musiker und Verleger Daniel Friedrich Parthey einen «Erblindenden».Die Schirmmütze, die der Künstler trägt, diente ihm denn auch dazu, die lichtempfindlich gewordenen Augen zu schützen.

Abb. 1: Anton Graff, Selbstbildnis, 31.12.1810, Schwarze Kreide, weiss gehöht, auf braunem Papier vergé, 42.3 x 33.8 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich / © Public Domain Mark 1.0

Graff unterzog sich 1803 einer Operation des grauen Stars, die offensichtlich nicht erfolgreich war und in deren Folge das linke Auge die Sehkraft vollständig einbüsste – dies erklärt, weshalb das Auge nicht mehr fixieren konnte und der Blick nach innen und oben abwanderte. Die Raumforderung am Unterlid war möglicherweise eine Narbe oder Fistel, die aus einer schlechten chirurgischen Versorgung resultierte.3 In anderen, zeitgleich oder später entstandenen Selbstporträts stellte sich der Künstler mit unauffälliger Augenpartie dar, hier aber zeigte er den Zustand des linken Auges in unerbittlicher Ehrlichkeit. (Abb. 2)

Abb. 2: Anton Graff, Detail aus: Selbstbildnis, 31.12.1810, Schwarze Kreide, weiss gehöht, auf braunem Papier vergé, 42.3 x 33.8 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich / © Public Domain Mark 1.0

 

Neben der Augenpartie erregt ein zweites Element – im wörtlichen Sinn eine Marginalie – unsere Aufmerksamkeit: Am unteren rechten Bildrand ist in weisser Kreide auf braunem Grund zu lesen: «1810. 31. Dec». (Abb. 3) In den meisten Fällen verzichtete Graff auf die Datierung seiner Werke, und wenn er die Jahreszahl dennoch vermerkte, dann mehrheitlich auf der Rückseite. Das gilt auch für die Selbstporträts, von denen das Werkverzeichnis nicht weniger als 81 auflistet.4 Im Falle der vorliegenden Zeichnung, die sich seit 1959 als Depositum der Gottfried Keller Stiftung in der Graphischen Sammlung der ETH befindet, hat die Datierung allerdings mehr als nur dokumentierende Funktion. In ihrer Auffälligkeit und mit der Nennung des genauen Tags kommt ihr geradezu der Charakter einer Botschaft zu: Es ist Silvester, der Tag, an dem das zu Ende gehende Jahr rekapituliert wird und an dem sich Hoffnung und Sorge auf die Zukunft richten. Es ist der Moment einer Zwischenbilanz. Der Blick des Künstlers in den Spiegel – an sich schlicht ein Hilfsmittel bei der Abbildung des eigenen Gesichts – gerät hier zur existenziellen Selbstbefragung.

Abb. 3: Anton Graff, Detail aus: Selbstbildnis, 31.12.1810, Schwarze Kreide, weiss gehöht, auf braunem Papier vergé, 42.3 x 33.8 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich / © Public Domain Mark 1.0

Das Thema des (Sich-)Sehens erfährt so in zweifacher Weise eine Zuspitzung: durch den auffälligen Hinweis auf den Entstehungszeitpunkt der Zeichnung und durch die schonungslose Darstellung des erkrankten Auges. Seit dem Auftreten seines Augenleidens porträtierte sich Graff wiederholt mit Schirmmütze oder Brille dar und hob durch den bildimmanenten Verweis auf die Fragilität des Gesichtssinns das Selbstkonzept des Künstlers als eines Sehenden (im Unterschied etwa zum Selbstbild als phantasiebegabtem Erfinder) nur umso deutlicher hervor. So eindringlich wie auf der Zeichnung, die Graff am Altjahrestag 1810 anfertigte, stellte er die Gefährdung des Sehens – und damit auch dessen Bedeutung – freilich kaum jemals zur Schau.

Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer, Schwiegervater des Malers, beschreibt in einer kurzen Passage seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, wie schmerzhaft der nach Wahrheit forschende Blick des Künstlers für diejenigen sein konnte, die sich von ihm porträtieren liessen: «Ich habe mehr als einmal bemerkt, dass verschiedene Personen, die sich von unserm Graf, der vorzüglich die Gabe hat, die ganze Physionomie in der Wahrheit der Natur darzustellen, haben malen lassen, die scharfen und empfindungsvollen Blicke, die er auf sie wirft, kaum vertragen können; weil jeder bis in das Innere der Seele zu dringen scheinet.»5 Beim Blatt der Graphischen Sammlung mischt sich der Schmerz auch in die Betrachtung des Ergebnisses.

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1 Vgl. Ekhart Berckenhagen, Anton Graff. Leben und Werk, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 1967, S. 164, Kat.-Nr. 541.
2 Anton Graff in einem Brief an Daniel Friedrich Parthey vom 29. März 1802: «Wenn Sie meinen Brief nicht lesen können, so haben Sie mit einem Blindwerdenden Mitleid.» Zit. nach: Berckenhagen 1967, S. 38.
3 Für die Deutung des Aussehens von Graffs linkem Auge danke ich dem Ophthalmologen Dr. Konrad Jost, Zürich.
4 Vgl. Berckenhagen 1967, S. 151–167.
5 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinander folgenden, Artikeln abgehandelt, 2 Bde., Leipzig: M. G. Weidmanns Erben und Reich, Bd. 1, S. 920, Sp. 1.

 

 

 


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