Im ewigen Auf und Ab – Über die gewichtige Leichtigkeit des Seins

Die ETH Zürich besitzt mit der Graphischen Sammlung nicht nur eine der grössten Sammlungen für Kunst auf Papier in der Schweiz, die technische Hochschule fördert bei ihren Neubauprojekten auch gezielt Kunst am Bau: Für Basel, wo die ETH Zürich ein neues Forschungsgebäude für das Departement Biosysteme (D-​BSSE) errichtet, hat der Schweizer Künstler Yves Netzhammer (*1970) eine bewegliche Installation entworfen, die auf seinen Erfahrungen im Rahmen des Ausstellungsprojektes «Gravitatorische Behauptungen» in der Graphischen Sammlung 2019/2020 basiert.

Installationsansicht aus «Gravitatorische Behauptungen», 4. Dezember 2019 – 15. März 2020, © Yves Netzhammer / Gramazio Kohler Research, Foto: Livio Baumgartner

Für einmal wurde der Ausstellungssaal der Graphischen Sammlung im Dezember 2019 leergeräumt, kein einziges Werk hing an der Wand. Nur zwei Roboter standen mitten in der historischen Säulenhalle auf kreisrunden Plattformen und führten mehr oder weniger präzise Bewegungen nach einem simplen Code aus. In Kooperation zwischen dem Künstler und der ETH-Professur für Architektur und Digitale Fabrikation, Gramazio Kohler Research, entstand eine kinetische Installation mit in deren Forschung eingesetzten Apparaturen. Während auf der horizontalen Ebene eine Schnur nach eigens dafür entworfenen Zeichnungen von Netzhammer ausgelegt wurde, strickten die Roboter vertikal an einer orbikularen Wand aus groben Maschen. Die Maschinen folgten dabei strikt an die 1’200 Befehlen und schufen doch jedes Mal ein neues «Werk». Wie anmutige Tänzer zauberten sie flüchtige Momente hervor. Die Schwerkraft sorgte für überraschende Verschiebungen und Verzerrungen auch im hängenden Netz. Die ephemeren Formen verschoben sich zu immer neuen Bildern und Bedeutungen, das Errechnete traf auf das Unerwartete, die Regel auf den Zufall.

Yves Netzhammer, Aus dem eingereichten Portfolio zu Ausweichmanöver biologischer Anziehung, © Yves Netzhammer

Im Dialog zwischen Maschine und Schwerkraft

Naturgesetze und komplexe Systeme standen im Fokus des Künstlers auch bei seinem Entwurf, den er letztes Jahr für den ETH-Neubau auf dem Basler Schällemätteli eingereicht hatte. Seit 2001 zum ersten Mal schrieb die Hochschule wieder ein Kunst am Bau-Projekt aus, im Rahmen von welchem die Aufgabe des Departementes, «das Verständnis, das rationale Design und die Programmierung komplexer biologischer Systeme von der Nanoskala bis hin zu ganzen Organismen» reflektiert werden sollte. Zurückgreifend auf sein Projekt in der Graphischen Sammlung bezog der Künstler das erprobte technische Equipment in seinem Vorschlag ein, der schliesslich prämiert wurde und noch dieses Jahr realisiert wird. In der neuen Installation von Netzhammer mit dem Titel Ausweichmanöver biologischer Anziehung geht es um die Thematisierung von immanenten Abhängigkeiten: Im grosszügigen Atrium des geplanten BSS-Gebäudes wird ein durchkomponiertes Zusammenspiel von Roboter und Gravitation das Auge fesseln. Mit Hilfe von Feinmechanik, Engineering und Software setzt der Künstler kleine alltägliche Gegenstände und aus der Natur entlehnte Grundformen horizontal wie vertikal an weitgespannten Schnüren in Bewegung und macht damit ein fein austariertes, aber durchaus auch labiles System eines jeden Organismus sichtbar.

Yves Netzhammer, Aus dem eingereichten Portfolio zu Ausweichmanöver biologischer Anziehung, © Yves Netzhammer

Ein Mobile als Sinnbild

Als Marcel Duchamp (1887-1968) 1913 sein Fahrrad-Rad, eines seiner ersten Ready-mades, als ein «Mobile» bezeichnete, strich er dabei die konstituierende Rolle von Bewegung in seinem Werk heraus. Duchamp war es auch, der diesen Terminus später für die schwebenden Arbeiten von Alexander Calder (1898-1976) prägte: der amerikanische Künstler verband seine Faszination für Zirkus-Akrobatik mit der spielerischen Lust am Gleichgewicht. Nun Netzhammer begreift sein mobiles Universum als Sinnbild für komplexe Zusammenhänge. Mit den darin enthaltenen Vernetzungen und Abhängigkeiten, variablen wie invariablen Grössen ist dies ein explizit dynamisches Weltbild von filigran verwobenen Assoziationen. Die Suche nach Analogien ist eine der zentralen Konstanten in seinem Bilderkosmos. Nie sind diese naheliegend oder offensichtlich, vielmehr eingesponnen in einem feinmaschigen, äusserst elastischen Gewebe. So ist die Maschine für den Künstler weder einfach ein Werkzeug noch will er mit ihrem Einsatz eine Diskrepanz zwischen der Unvollkommenheit des Menschen gegenüber ihrer immer grösser werdenden Perfektion thematisieren. Dieses Phänomen hatte der österreichische Philosoph Günther Anders (1901-1992) einst als «prometheisches Gefälle» bezeichnet. Bei Netzhammer wird dieses scheinbar einseitige Gefälle umgedeutet in ein höchst poetisches und listreiches Equilibre von elementaren Prinzipien unseres Lebens.

 


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