Märchenhafte Welten in feinen Linien: Die magischen Radierungen der Keiko Minami
Vögel singen zwischen den Blüten und Blättern des Friedensbaums, Schafe und Kühe weiden auf den Hügeln der Landschaft. Kleine Mädchen füllen ihre Körbe mit Zweigen und Blumen. In einem endlosen Himmelsmeer brechen Segelboote ins Unbekannte auf, bunte Fische lassen sich von der Strömung treiben. Einsam leuchtet der Mond in einer sternenlosen Nacht, die Turmuhr zeigt zehn nach zwölf. Tief im Zauberwald versteckt liegt ein geheimnisvolles Schloss: In diesen Szenen entfalten sich die verwunschenen Bildwelten der japanischen Künstlerin Keiko Minami (1911-2004), die mit ihren Radierungen sowohl junge als auch erwachsene Betrachtende in ihren Bann zieht.
Der Traum vom Kinderbuch
Keiko Minami wächst früh verwaist bei Verwandten im heutigen Gebiet der Stadt Takaoka in der Toyama Präfektur in Japan auf. Schon als Jugendliche träumt sie davon, Kinderbuchillustratorin zu werden. Ihr Umzug nach Tokyo im Jahr 1945 und die Bekanntschaft mit der japanischen Kinderbuchautorin Sakae Tsuboi (1899-1967), die ihre Mentorin wird, ermöglichen ihr die Verwirklichung dieses Traumes. Gleichzeitig vertieft Minami ihre malerischen Kenntnisse, indem sie unter der Anleitung von Yoshio Mori (1908-1997) Ölmalerei studiert. In seinem Atelier begegnet sie schliesslich ihrem späteren Ehemann, dem Graphikkünstler Yozo Hamaguchi (1909-2000). Seine intensive Beschäftigung mit dem damals noch relativ unbekannten Verfahren der Schabkunst macht ihn zu einer wichtigen Figur in der japanischen Kunstszene. Gemeinsam ziehen sie 1954 nach Paris, wo auch Minami beginnt, sich mit druckgraphischen Verfahren zu beschäftigen. Während sie in Werken von Künstlern wie Paul Klee (1897-1940) Inspiration findet, prägt sie insbesondere ihre Zeit im Atelier von Johnny Friedlaender (1912-1992), der als einer der Wegbereiter der modernen Farbradierung gilt. Die drei Werke Minamis, die sich im Besitz der Graphischen Sammlung befinden, zählen zu den frühen graphischen Werken der Künstlerin aus ihrer Pariser Zeit.
Gemusterte Zauberberge
Die in zarten Farben ausgeführten Blätter Minamis werden von Tieren und Mädchen bewohnt, die sich in weiten, von Hügeln und Bäumen gesäumten Landschaften befinden. Besonders eindrücklich ist die kleinteilige und hochdetaillierte technische Ausführung der Künstlerin, die in Werken wie les deux collines (Abb. 1) hervortritt. Vor zwei grossen, in Schwarz radierten Bergen erstreckt sich eine grüne Wiese. Am unteren Bildrand ist ein grasendes Rind zu sehen, dessen vergleichsweise kleine Erscheinung der Landschaft eine monumentale Wirkung verleiht. Dabei bestehen die einzelnen Landschaftselemente aus unzähligen Strichen und Punkten (Abb. 2), die sich insbesondere in der Darstellung der Berge zu verschiedenen Mustern formen. Die resultierenden Texturen verstärken den träumerischen Charakter des Werkes und erschaffen eine Szenerie, welche den Blick einer kindlichen Vorstellungskraft evoziert.
Lämmer im Mondlicht
Auch der Einsatz von Farbe spielt in den Radierungen Minamis eine zentrale Rolle. In der Schlosslandschaft von les agneaux (Abb. 3) trägt die Leere des zartblauen Hintergrundes, vor dem sich nur der Schimmer des ebenfalls blau radierten Mondes abhebt, zur Stimmung der Szene bei. So entfalten sich im Zusammenspiel von Farbwirkung und Sujets mit der kindlich-märchenhaften Ästhetik der Künstlerin Bildwelten, deren Atmosphäre von poetischer Einsamkeit und nostalgischer Sehnsucht durchdrungen ist.