Stranger in the Village: Rassismus am Rande der Sichtbarkeit

In den letzten Jahren habe ich viel über Rassismus gelernt. Dieses Tabuthema, das von der Kunstwelt lange ignoriert oder auf ästhetisierenden Umwegen behandelt wurde, ist heute zu einem festen Bestandteil in der Kunst geworden. Dank verschiedener Expert:innen auf diesem Gebiet wurden mir zum Beispiel die Augen dafür geöffnet, welches Privileg ich als weisse Person habe. Dieses Privileg besteht darin, sich die Frage nach dem Privileg nicht zu stellen. Es gibt Kunstschaffende, die uns helfen, die Augen für diese Fragen zu öffnen, wie zum Beispiel der weltberühmte Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) und der konzeptuelle Künstler Glenn Ligon (*1960), von dem die Graphische Sammlung ETH Zürich zwei Druckgraphiken besitzt. Beide Männer stammen aus New York.

James Baldwin im Schweizer Bergdorf
2024 feiern wir den 100. Geburtstag von James Baldwin. Wer erinnert sich noch daran, dass er Anfang der 1950er Jahre einige Monate in einem Schweizer Dorf (Leukerbad, Wallis) verbrachte? Da wurde er mit «Staunen, Neugier, Belustigung oder auch Empörung» empfangen. Wie von ihm selbst beschrieben, wurde er als «lebendes Wunder» begrüsst oder als «N***» bezeichnet. Die Reaktionen der Einheimischen machten ihm bewusst, dass Schwarze Personen immer noch ungerechterweise als Entdeckungen behandelt werden können. Das erinnerte ihn an die gewaltvolle Geschichte seiner afrikanischen Vorfahren, die über den Atlantik verschleppt und jahrhundertelang versklavt wurden. Durch diese Erfahrung wurde der afroamerikanische und homosexuelle Intellektuelle zum «Fremden». Er verarbeitete sie in seinem Essay Stranger in the Village (1953), in dem er den erlebten Alltagsrassismus analysierte.

Pierre Koralnik, Un étranger dans le village, 1962, mit James Baldwin, Video, 28 min, Musik Henri Chaix, mit Genehmigung des Filmemachers © RTS Radio Télévision Suisse

Eine Inspiration für Glenn Ligon
Baldwins Worte haben bis heute zahlreiche Künstler:innen inspiriert, darunter Marlene Dumas, Sasha Huber, Glenn Ligon, Steve McQueen und Kara Walker. Unter ihnen sticht Glenn Ligon hervor, der Stranger in the Village eine Serie widmet. In den 1990er Jahren begann er mit der Serie Stranger, in der er entweder die Buchstaben des Essays auf monumentale Leinwände (bis zu 14 Meter lang) übertrug oder Nahansichten schuf, die den Betrachtenden den Überblick nehmen, wie hier in der Druckgraphik Extract (2021).

Glenn Ligon, Extract, 2021, Aquatinta mit Photogravur, 37.0 x 38.0 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich, Inv-Nr. 2022.0012 / © Glenn Ligon

Zwischen Hypervisibilität und Unsichtbarkeit
Glenn Ligons Werken bewegen sich an der Grenze von Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Damit spielt der Künstler auf die gleichzeitige Hypervisibilität und Unsichtbarkeit an, welche die Erfahrungen Schwarzer Personen im Alltag oftmals prägen. Für ihn ist es auch eine Art, die Erfahrung eines Kampfes darzustellen: den Kampf des Autors (Baldwin) einen Text über ein komplexes Thema zu schreiben, aber auch den Kampf, die tiefgründige Botschaft der Werke des Malers (Ligon) zu verstehen. Andere Arbeiten sind fast nicht mehr lesbar, weil der Künstler den Kontrast zwischen Schwarz und Weiss derart verringert, dass er beinahe verschwindet, weil er das Motiv bis zur Unkenntlichkeit vergrössert oder ein Blatt so oft überdruckt, dass die Schrift nicht mehr zu entziffern ist – wie bei dieser Druckgraphik A Crowded Field (reversed) (2021), die ebenfalls die Kommunikation zwischen dem Werk und seinen Betrachtenden auf die Probe stellt.

Glenn Ligon, A Crowded Field (reversed), 2021, Aquatinta, 61.0 x 50.0 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich, Inv-Nr. 2022.0011 / © Glenn Ligon


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