Toter Gigant am Strand. Zu einer Darstellung eines gestrandeten Pottwals aus dem 17. Jahrhundert

Wir alle kennen aus der Presse Bilder gestrandeter Wale. Nichts zu empfinden beim Anblick der verendenden oder bereits toten Riesen mag nur den wenigsten gelingen. So ist es auch nur allzu natürlich, dass auf jenen Bildern Scharen von herbeigeeilten Menschen selten fehlen. Das drängende Verlangen, selbst Augenzeuge eines seltenen Naturereignisses zu werden, ist freilich kein Phänomen unserer Tage. Als am 3. Februar 1598 ein gewaltiger Pottwal an den Strand von Berckhey gespült wurde, löste dieses Ereignis eine regelrechte Massenansammlung aus.

Willem van der Gouwen nach Jacob Matham, Gestrandeter Pottwal in der Nähe von Berkhey, 1679, Kupferstich, 273 x 340 mm, Graphische Sammlung ETH Zürich, Inv.-Nr. D 6112

Der Wal von Berckhey
Sucht man heute die Ortschaft Berckhey auf der Landkarte Hollands, so wird man sie nicht finden. Besser gesagt, man wird sie nicht mehr finden, denn die kleine Stadt in der Nähe von Katwijk verschwand schon im 17. Jahrhundert im Meer. Doch das Meer verschlingt nicht nur, zuweilen spuckt es auch etwas aus, und das kann so gross wie ein Schulbus sein.

Schaut man auf den Kupferstich von Willem van der Gouwen (Abb. 1), der den gestrandeten Pottwal von Berckhey zeigt, ist es zuerst die schier unglaubliche Grösse und Masse des Tieres, die ins Auge fällt. Vom linken bis zum rechten Rand füllt sein gigantischer Leib das Blatt aus. Die Menschen, die sich um und auf dem Kadaver versammelt haben, wirken im Vergleich zu ihm wie Zwerge. Die Bergkette im Hintergrund, die gemeinsam mit dem Segelboot seine Silhouette spiegelt, ist ein bildkompositorischer Trick, die Riesenhaftigkeit dieses Körpers zu unterstreichen. Und auch in der Bildunterschrift wird diese betont. Der Leser erfährt, dass der Wal ganze 70 Fuss lang war. Wie sehr die genaue Vermessung des Tieres die Menschen damals interessierte, bezeugen auf dem Blatt gleich drei Figurengruppen, die das tote Tier mit Massbändern oder Massstäben untersuchen. Neben der Schwanzflosse ist es vor allem der bildzentral inszenierte Penis des Wales, der in dieser Hinsicht besondere Neugier hervorruft. Während ein Herr dem tierischen Glied mit einem Massstab unerschrocken zu Leibe rückt, steht ein junges Paar etwas schüchtern daneben. Der Mann hat den Arm schützend um seine Frau gelegt als ginge von der unbekannten Kreatur aus dem Meer noch immer Gefahr aus. Weniger zimperlich ist hingegen ein dritter Herr – er nutzt das Geschlechtsorgan als Rampe, um den Riesenleib zu erklimmen.

Jacob Matham nach Hendrick Goltzius, Gestrandeter Pottwal in der Nähe von Berkhey, 1598, Kupferstich, 317 x 428 mm, © The Trustees of the British Museum, Inv.-Nr. 1846,0509.272

Es ist aber nicht nur Neugier oder wissenschaftliches Interesse, das die Menschen rund um Berckhey veranlasst, den Wal aufzusuchen. Sein Körper ist auch eine Rohstoffquelle, und zwar für den bis Anfang des 20. Jahrhunderts als Lampenöl verwendeten Waltran. All die Männer und Frauen, die sich mit Fässern, Schöpfkellen, Eimern und kleinen Zelten um den gestrandeten Wal versammelt haben, sehen in ihm in erster Linie eine Gelegenheit für Geschäfte mit dem begehrten flüssigen Brennstoff.

Dass das Aufsuchen des Walkadavers olfaktorisch keineswegs eine Freude war, belegt die feine Dame im rechten Bildhintergrund, die sich die Nase mit einem Tuch bedeckt. Noch Hermann Melville beschreibt in seinem 1851 erschienen Buch über den wohl berühmtesten Wal der Literaturgeschichte, Moby Dick, eindringlich den üblen Geruch, der von den sogenannten «faulen Walen» ausgeht: «Es lässt sich gut vorstellen, was für einen üblen Gestank solch eine Masse verströmen muss, schlimmer als eine assyrische Stadt während der Pest, wenn die Lebenden nicht mehr im Stande sind die Verstorbenen zu begraben.»

Die Vermenschlichung des Wales
Als Willem van der Gouwen 1679 seinen Kupferstich anfertigte, war das dargestellte Ereignis bereits 81 Jahre her. Für seinen Kupferstich diente ihm ein Stich von Jacob Matham als Vorlage (Abb. 2). Dieser wiederum hatte sein Bild nach einer Zeichnung seines Lehrers und Stiefvaters, Hendrick Goltzius, angefertigt (Abb. 3). Ob Goltzius die Zeichnung vor Ort schuf, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Als Argument dagegen wird immer wieder die falsch dargestellte Brustflosse erwähnt, die Goltzius als Ohr des Wales missinterpretiert habe. Wie dem auch immer sei, zweifellos führt diese Darstellung zu einer Anthropomorphisierung des Tieres und erhöht damit unsere Bereitschaft zur Empathie.

Im Bild fällt auf, dass keiner der vielen Schaulustigen sich für das Elend der riesigen Kreatur zu interessieren scheint. Das weit geöffnete Maul bezeugt die lange und qualvolle Agonie, die der Wal durchlitten haben muss. Doch der Wal ist nicht der Einzige, der auf das Mitleid der allzu beschäftigten Menschen verzichten muss. Einsam, im Sinne von unbeachtet, steht ein alter Bettler am Strand. Zunächst scheint es, ein junger Mann würde auf ihn deuten, doch dann sehen wir, dass es der hinter dem Bettler liegende Wal ist, den er den angekommen Reitern zeigt.

Was auf den ersten Blick wie eine nahezu dokumentarische Schilderung der Auffindung eines seltenen Tieres aussieht, entpuppt sich somit als tiefgründige Darstellung menschlicher Unzulänglichkeiten. Goltzius` toter Wal erzählt uns am Ende mehr über unsere eigene Spezies als über sich selbst.

Hendrick Goltzius, Gestrandeter Pottwal in der Nähe von Berkhey, 1598, Schwarze Kreide, Feder in Rotbraun, rotbraun und grau laviert, mit Weisshöhungen, 296 x 437 mm, © Teylers Museum in Haarlem, Inv.-Nr. N80

 

 


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