Vom Bleibenden im Momenthaften

Wem ist sie nicht aufgefallen, die grosse Dominique, die die Besucherinnen und Besucher der Graphischen Sammlung ETH Zürich mit ihrem unergründlichen Lächeln zu begrüssen pflegt. Das verblüffende Porträt, das mit seinem inneren Strahlen und einer ungeheuren Präsenz besticht und die Betrachterinnen und Betrachter zwischen Faszination und Irritation schweben lässt, hängt im Korridor zum Ausstellungssaal. Als Franz Gertsch (*1930) 1988 die Realisierung des Holzschnittes in Angriff nahm, konnte er sich lange nicht entscheiden, ob er sich an dessen Stelle nicht an ein Landschaftsmotiv wagen sollte. Mit seinen gemalten wie gedruckten Bildnissen sowie den imposanten Naturbildern, die heute zu den Ikonen der Schweizer Kunst zählen, hat sich der Künstler nicht zuletzt auch in die Geschichte des Fotorealismus eingeschrieben.

Franz Gertsch (*1930), Dominique, 1988/89, Farbholzschnitt/Farbholzstich auf Kumohadamashi-Japanpapier, Graphische Sammlung ETH Zürich © Franz Gertsch

Der Künstler und seine Modelle
Ab 1969 begann Franz Gertsch seine monumentalen Porträts nach Fotovorlagen zu malen – ein eigentlicher Befreiungsakt, wie er dies später beschrieb, nach einer langen Phase des Suchens eines eigenen Stils. Griff der Künstler zuerst auf vorgefundenes Material wie etwa Fotos in Illustrierten zurück, konzentrierte er sich bald auf Selbstporträts und Aufnahmen der eigenen Familie und ging mit der Zeit dazu über, diesen engen Kreis zu öffnen. Als ihn Jean-Christophe Ammann anfangs der 1970er Jahre in die illustre Runde rund um den Luzerner Künstler Luciano Castelli einführte, fand Gertsch zu seiner Paraderolle als sensibler Beobachter, der die wilde Partyszene in der Villa Reckenbühl mit seiner Kamera dokumentierte. Bald darauf entdeckte er seine Sujets auf den ganz grossen Bühnen – wie etwa die deutsche Schauspielerin Tabea Blumenschein oder die amerikanische Singer-Songwriterin Patty Smith. Dem Rat seiner Frau Maria folgend schärfte der Künstler schliesslich den Fokus wieder auf Personen aus dem näheren Umfeld. So auch im Fall des Modells für den späteren Holzschnitt: die Lehrerin Dominique Köpplin, geb. Sonnen, lebte damals mit ihrer Familie in Schwarzenburg in der Nähe vom Wohnort der Familie Gertsch. Zum Zeitpunkt der Fotoserie, die Gertsch im Fotoatelier von Balthasar Burkhard aufnahm, war sie etwa 25 Jahre alt.

Diavorlage für Dominique, aus: Franz Gertsch – Landschaften und Porträts 1986–1995, Staatliche Museen zu Berlin, 1997, S. 16 © Franz Gertsch

Aus einem Meer an Lichtpunkten
Der Vergleich der beiden Bildnisse fördert einige bemerkenswerte Erkenntnisse zu Tage. Natürlich ist die gedruckte Version zuerst einmal seitenverkehrt zu ihrer Vorlage zu sehen – obwohl der Künstler einige Motive durchaus auch seitenrichtig drucken liess. Ebenfalls augenfällig ist der Grössenunterschied: hier ein Kleinbilddia, das dort auf das beachtliche Format von 234 × 181 cm aufgeblasen wird, wobei das Papier nochmals etwas grösser ist (276 × 217 cm). Auch die Suche nach einem geeigneten Trägermaterial für seine überdimensionierten Holzschnitte gestaltete sich kompliziert. Mit den Produkten der japanischen Manufaktur von Meister Heizaburo Iwano fand Gertsch 1987 jedoch das Papier, das er bis heute verwendet. Die riesigen Ausmasse des Werkes hatten aber auch Auswirkungen sowohl auf den Herstellungs- wie den anschliessenden Druckprozess. War der letztere nur mit Hilfe eines eingespielten Teams rund um Nik Hausmann zu realisieren, verlangte auch das Bearbeiten des Druckstockes eine virtuose Technik. Bei genauerer Betrachtung besteht das gedruckte Abbild der fotografischen Vorlage tatsächlich aus Ansammlungen von unzähligen hellen Punkten in unterschiedlicher Dichte, die oft an Wolken oder andere abstrakte Gebilde erinnern.

Franz Gertsch (*1930), Fragment Natascha IV, 1989, Farbholzschnitt/Farbholzstich auf Kumohadamashi-Japanpapier, Graphische Sammlung ETH Zürich © Franz Gertsch

Zwischen zwei Polen
Ganz der Maler, der er in erster Linie ist, steht der Künstler bis heute vor der an der Wand aufgehängten Lindenholzplatte und hebt mit dem feinsten Hohleisen winzige Kerben im dunkelblau grundierten Langholz aus – ein Umstand, der seine Werke an der Grenze zwischen Holzschnitt und Holzstich ansiedeln lässt. Oft emanzipieren sich einzelne Teilstücke von der Gesamtanlage. Bereits vom allerersten grossformatigen Holzschnitt Natascha (1986–88) gibt es autorisierte Ausschnitte: sowohl Haar- als auch Augenpartien werden als separate Drucke herausgegeben. So wie Gertsch gültige Fragmente ausmacht, so wie er eine einzige Aufnahme aus seiner Serie an Fotoporträts der jungen Frau auswählt, bestimmt er für jeden seiner Drucke auch genau einen Farbton – beim Blatt aus der Sammlung ist dies ein Rosa-Quindo, mit einer Spur Perlglanzrot, Karminrot sowie Oxydrot, das zehnte von insgesamt achtzehn Unikaten. Diese differenzierenden Ansätze sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gertsch stets sein ausgeprägtes Interesse an einer Balance zwischen Abstraktion und Realismus in seinen Werken herausgestrichen hat. Sein Fokus liegt nicht auf der reinen Reproduktion der Natur, der realen Person. Die dargestellten Motive erfahren eine eigentliche Entkoppelung vom konkreten Gegenstand und bewegen sich auf eine Bildhaftigkeit zu. Aus der anekdotischen Momentaufnahme einer ihm bekannten Person destilliert Gertsch durch Reduktion und Fokussierung auf atmosphärische Farbräume das dem Individuellen Übergeordnete, eine über die persönlichen Merkmale hinausgehende Wirkkraft – da in einem Moment eben auch das Bleibende festzumachen ist.


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