Vom Reiz der Leerstelle. Hendrick Goltzius’ Kupferstich Anbetung der Hirten
Die Anbetung der Hirten ist einer der letzten Kupferstiche, an denen Goltzius arbeitete, bevor er sich ab 1600 primär der Malerei zuwandte. Der Abzug in der Graphischen Sammlung ETH Zürich stammt vom letzten Zustand der aus unbekannten Gründen von Goltzius nie fertiggestellten, aber nach seinem Tod noch mehrfach modifizierten Platte.
Die unbearbeiteten Flächen bilden einen harten Kontrast zu den mit höchster Präzision und Vollendung gestochenen Bereichen. Die zentrale Leerstelle entfaltet bei diesem Blatt darüber hinaus einen besonderen Reiz, weil sie eine einzigartige Symbiose mit der Bilddramaturgie eingeht: Wir sehen vier Gesichter, die ganz unterschiedliche Reaktionen auf etwas zeigen, das wir zwar hätten sehen sollen, aber tatsächlich nicht sehen, weil just dieser Bereich unausgeführt blieb. Unweigerlich wird das leere Bildzentrum so zu einer Projektionsfläche für unsere eigene Imagination.
Wechselvoller Umgang mit dem Unfertigen
Das war aber nicht immer so. Herausgegeben wurde der Kupferstich wohl erst nach Goltzius’ Tod im Jahr 1617, und zwar von seinem Stiefsohn und Schüler Jacob Matham. Ihm hatte er schon um 1600 seinen Verlag und damit viele seiner Druckplatten überlassen. Zuerst veröffentliche Matham die Anbetung der Hirten so unfertig, wie sie ihm von Goltzius überlassen worden war, lediglich ergänzt durch drei Zeilen, die sein kaiserliches Privileg erwähnen, auf Goltzius als Stecher und ihn selbst als Verleger verweisen. Später ergänzte er die Komposition durch in Kaltnadel ausgeführte Umrisslinien, wobei er sich wahrscheinlich auf eine Zeichnung von Goltzius stützen konnte. In Abzügen dieses Zustandes sieht man, wie das neugeborene Christuskind – das eigentliche inhaltliche Zentrum des Bildes – von Maria und Josef den herbeigeeilten Hirten gezeigt wird. Diese Ergänzung wurde aber im letzten Zustand wieder vollständig getilgt, so dass allein die zuvor noch hinzugefügte Jahreszahl «1615», mit der wohl ein Erscheinungsdatum zu Lebzeiten des Künstlers suggeriert werden sollte, den letzten vom ersten Zustand unterscheidet.
Zwei Lichtquellen
Goltzius konzentrierte sich bei diesem Blatt auf die virtuose Wiedergabe des flackernden Kerzenlichtes. In seinem Wiederschein sehen wir ganz links einen alten Hirten mit Knollennase, Zottelbärtchen und einem animierenden Lachen, das den Blick auf seine Zahnstummel freigibt; in der Mitte Josef, der diese Reaktion zufrieden beobachtet, während ein jüngerer Hirte versucht, über die Schulter Josefs hinweg einen Blick auf das Neugeborene zu erhaschen. Ganz rechts erscheint das makellose Antlitz Marias, das im Gegensatz zu den Gesichtern der drei Männer vollkommen gleichmäßig ausgeleuchtet ist – eine Unterscheidung, die hier auch symbolische Valenz hat, insofern als Maria als Gottesmutter den reinen Abglanz des von ihr geborenen «Lichts der Welt» verkörpert.
Fusion der Meisterwerke
Als Vorbild für die markanten Helldunkeleffekte sowie auch für Teile der Komposition gilt Tizians Anbetung der Hirten im Palazzo Pitti in Florenz. Die Stichtechnik hingegen, die dermaßen kleinteilig ist, dass man einzelne Linien nur aus nächster Nähe erkennen kann, ist an Lucas van Leiden angelehnt. Damit reiht sich dieser Kupferstich in eine Gruppe von Werken ein, bei denen Goltzius Stil und/oder Stechweise berühmter künstlerischer Vorbilder zitierte, wobei er nicht selten unterschiedliche Modelle im selben Werk verschmolz.