Was für ein exotisches Tier!

Es war eine absolute Sensation! Im Mai 1515 kam ein lebendes Nashorn per Schiff in Belém, einem Vorort von Lissabon, an. Das indische Rhinozeros war als diplomatisches Geschenk aus Goa, damals Teil der portugiesischen Kolonie, übers Meer transportiert worden. So ein Tier hatte man in Europa seit dem Altertum nicht mehr gesehen. Die Ankunft des exotischen Kolosses löste am Hafen denn auch einen veritablen Tumult aus. Doch nicht nur in Portugal hörte man von der Ankunft des seltsamen Wesens. Auch Albrecht Dürer aus Nürnberg vernahm es und entschied sogleich, davon einen Holzschnitt anzufertigen.

Albrecht Dürer (1471-1528), Rhinocerus (1515), 24.3 x 30.8 cm, Holzschnitt und Typendruck, Graphische Sammlung ETH Zürich

Zwischen Realität und Fiktion
Allerdings hatte Dürer ein Problem: Er hatte das Tier selbst nie zu Gesicht bekommen! Wenigstens kannte er Beschreibungen aus einem Brief, dem eine Zeichnung des Rhinozerosses beigelegt war. Dürer fing also an, sich das Nashorn vorzustellen – immer mit der Absicht, dem realen Tier so nah wie möglich zu kommen. Er liess die Anhaltspunkte aus seinen Quellen einfliessen und bereicherte die Darstellung mit Elementen aus seiner eigenen Imagination. So stellte er das Nashorn auf eine Weise dar, dass seine Haut fast ein bisschen einem Harnisch eines mittelalterlichen Ritters ähnlich sieht. Die Oberfläche des Körpers wirkt, als ob das Nashorn einen mehrteiligen Eisenpanzer tragen würde. Zudem erinnert die Struktur der Beine an Schuppenpanzer, wie sie bei Rittern verbreitet waren. Nichts desto trotz sind seine Bestrebungen zu erkennen, der Überlieferung möglichst zu entsprechen. Die Nähte des Panzers etwa stimmen ziemlich genau mit dem Verlauf der dicken Hautfalten von indischen Nashörnern überein. Anderes, wie das zweite kleine Horn zwischen den Schultern, entspricht hingegen nicht der Realität, denn keines der fünf Nashornarten besitzt ein solches.

Über Jahrhunderte prägend
Der massige Körper des Nashorns füllt bei Dürer das gesamte Blatt, ja er scheint das Bild in alle Richtungen zu sprengen, wodurch der Künstler die Grösse und Mächtigkeit des Rhinozerosses effektvoll betont. Dürer war im Jahre 1515 bereits ein anerkannter Künstler, zugleich war er ein guter Geschäftsmann. Er ging davon aus, dass sich das exotische Motiv als Druckgraphik sehr gut verkaufen liesse – und damit sollte er recht haben. Dürers mit grossem Geschick entworfener und umgesetzter Holzschnitt mit Typendruck verkaufte sich prächtig. Das Werk wurde in acht Auflagen gedruckt und Generationen von Kunsthandwerkern und Kunstschaffenden liessen sich von der Graphik inspirieren. Obwohl auch andere Zeitgenossen das Nashorn darstellten, wurde kein Werk so bekannt wie dasjenige von Dürer. Es war sogar so überzeugend, dass es für Jahrhunderte die europäische Vorstellung vom Nashorn prägte.
Unser Exemplar gehört übrigens zur wertvollen ersten Auflage. Warum man das weiss? Weil der Holzschnitt von einem fünfzeiligen Text begleitet ist. Die weiteren Auflagen, die nach dem Tod Dürers hergestellt wurden, weisen allesamt sechs Zeilen auf.

Der folgende Link führt zur Vorlesung von Dr. Linda Schädler, die sie anlässlich der Scientifica über das Rhinocerus gehalten hat.

Im Sammlungskatalog Online der Graphischen Sammlung sind Dürers «Rhinocerus» sowie viele weitere Druckgraphik des Künstlers zu entdecken.


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