Wortwörtliches ‘Nachäffen’: Boldrinis Affenlaokoon nach Tizian
Wie eine venezianische Druckgraphik aus dem 16. Jahrhundert ein antikes motivisches Vorbild adaptieren, reinterpretieren und in ein amüsantes, neues Gesamtes umformen kann, zeigt exemplarisch der Affenlaokoon des Holzschneiders Niccolò Boldrini (um 1500 – nach 1566).
In einer Landschaftsszene mit Grashügeln und Häusern in der Ferne und kräftigen Bäumen am rechten Rand, befinden sich die prominent mittig ins Bild gesetzt drei Affen. (Abb. 1) Die Komposition spielt auf eine Skulpturengruppe von Baccio Bandinelli (1488-1493) an (Abb. 2), die wiederum eine Kopie der berühmten antiken Laokoon-Gruppe aus den Vatikanischen Museen ist (Abb. 3). Der grosse Affe in der Mitte lehnt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und wird von einer Schlange umwunden, die dem Mythos nach als Strafe der Götter entsandt wurde.
Ähnlichkeit mit wesentlichen Unterschieden
Vergleicht man die zwei ihn flankierenden Figuren in dem Holzschnitt mit ihren skulpturalen Vorbildern, wird ersichtlich, dass diese nicht akribisch genau übernommen, sondern in freier Manier ergänzt wurden. Die sich windenden Schlangen scheinen sie wie ein Tuch locker über ihre Körper zu tragen – die eigentliche prekäre Situation ist unter Kontrolle und die ursprüngliche Dramatik des Todeskampfes Laokoons erscheint in einer idyllischen Landschaft überspitzt und lächerlich. Nicht zuletzt stehen die Affen theatralisch auf einer erhöhten Platte wie die monumentale Bildhauerei, was ihre Platzierung in der idyllischen Natur noch absurder erscheinen lässt.
Parodie oder Kritik?
Der Holzschnitt wird in der Literatur oftmals Tizian zugeschrieben, auch wenn die Originalzeichnung fehlt und insbesondere seine intensive Beteiligung am Werk anzuzweifeln ist. Auch über die tatsächlichen Beweggründe für die Darstellung Laokoons mit seinen Söhnen als Affentrio lässt sich nur spekulieren. Es könnte sich um Tizians Antwort auf die damals führende Debatte in intellektuellen Kreisen über Kunst und Natur handeln, die die Kunst entweder als schlichte Nachahmer der Natur abwertete, oder im Gegenteil, sie der Natur weit überlegen sah.[1] Folgt man dieser Annahme, stellt nun die tierische Figurengruppe nach Tizian eine humorvolle Umkehrung dar, nämlich die Natur, die die hohe Kunst nachäfft.
Eine andere Theorie, jene von Horst W. Janson um 1946, setzt den Holzschnitt in den Kontext des Anatomiediskurses zwischen den Anhängern der Lehren des Arztes Galenos von Pergamon (ca. 128–216 AD) aus der griechischen Antike und den Praktiken des zeitgenössischen Dozenten Andreas Vesal (1514–1564). Während die Schriften von Galenos noch auf die anatomische Ähnlichkeit zwischen Affen und Menschen hinweisen und die direkte Übertragung anatomischer Erkenntnisse auf den Menschen vorschlagen, seziert Vesal direkt an menschlichen Körpern und begründet die moderne Anatomie.[2] Der Affenlaokoon wäre somit erneut eine satirische Anspielung über die aufkommende Beliebtheit der überholten Lehren von Galenos im 16. Jahrhundert und findet daher im beliebten, ebenfalls aus der Antike stammenden Laokoon-Motiv, eine humorvolle Symbiose.
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[1] Vgl. Matile, Michael, Italienische Holzschnitte der Renaissance und des Barock: Bestandeskatalog der Graphischen Sammlung der ETH Zürich. Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Graphische Sammlung. Basel: Schwabe, 2003, S. 64.
[2] Vgl. Janson, Horst Woldemar, “Titian’s Laocoon Caricature and the Vesalian-Galenist Controversy.” In: The Art bulletin, 28, no. 1 (New York 1946): 49–53, S. 52.