Zum Gebrauch bestimmt. Was uns eine Zeichnung Jos Murers über effizientes Arbeiten im 16. Jh. erzählt
Die Graphische Sammlung ETH Zürich besitzt eine Federzeichnung von dem Zürcher Künstler Jos Murer (1530–1580), die auf den ersten Blick merkwürdig unfertig erscheint. Ganze Bildbereiche sind nur angedeutet und weisen gähnend leere Flächen auf. Die Figuren sind zwar klar umrissen, die Definition ihrer Binnenstrukturen beschränkt sich jedoch auf wenige Parallelschraffuren. Auffällig sind auch ein paar handschriftliche Notizen, die ohne Scheu auf den Blatt vermerkt wurden. Für einen wenig ehrfürchtigen Umgang mit dem Blatt spricht auch, dass es offensichtlich so oft auf- und wieder zusammengefaltet wurde, dass es schliesslich in vier Teile zerfiel und deshalb auf eine Unterlage aufgeklebt werden musste.
Scheibenrisse
All die an Murers Federzeichnung sichtbaren Eigenheiten sind typisch für jene Bildgattung, zu der auch unser Blatt gehört: Entwurfszeichnungen für Glasgemälde – sogenannte Scheibenrisse. Die gezeichneten Vorlagen waren nicht das künstlerische Endprodukt, sondern innerhalb eines aufwendigen Werkprozesses Hilfsmittel zur Herstellung des eigentlichen Kunstwerkes – der Buntglasscheibe.
Die Schweiz war im 16. Jahrhundert eine Hochburg der Glasgemäldeproduktion. Die leuchtend bunten Bilder schmückten Klöster und Kirchen, Rats- und Zunfthäuser oder Universitätsgebäude. Sie wurden in der Regel gestiftet und machten dadurch Allianzen zwischen Institutionen und Freundschaften öffentlich sichtbar. Während viele der fragilen Glasbilder durch Brand, Hagelschlag oder andere unglückliche Umstände verlorengingen, hat sich eine vergleichsweise grosse Anzahl von Scheibenrissen erhalten. Im Falle unseres Blattes von Murer lässt sich glücklicherweise auch noch eine dazugehörige Glasscheibe bewundern. Sie wurde ursprünglich für einen Gasthof in Knonau gestiftet und befindet sich heute im Gotischen Haus in Wörlitz.
Vom Papier aufs Glas
Aber wie darf man sich die Übertragung des gezeichneten Entwurfs vom Papier aufs Glas genau vorstellen? In der Regel legten die Glasmaler den Scheibenriss direkt unter eine Scheibe, um die Linien auf dem Glas formatgetreu nachzeichnen zu können. Entsprechend ihrer primären Bestimmung für den werkstattinternen Gebrauch, sind Scheibenrisse häufig in einem reduzierten und nüchternen Zeichenstil ausgeführt, wie ihn auch unser Blatt von Jos Murer aufweist. Binnenschraffuren sind auf ein Minimum reduziert und Konturen so stark vereinfacht, dass sie von den Glasmalern leicht nachgezogen werden können.
Unnötige Arbeit sollte, wenn irgend möglich, vermieden werden. So sind etwa spiegelbildlich angelegte Bildbereiche bei Scheibenrissen häufig nur auf einer Bildseite ausgeführt, während die andere einfach leer gelassen wird. Auch bei unserem Blatt sind Kapitell und Basis der rahmenden Säulen nur auf der linken Bildhälfte ausgestaltet.
Dass auch die meisten der daran befestigten Wappenschilde nicht ausgefüllt wurden, hat allerdings einen anderen Grund: Häufig wurden Scheibenrisse mit beliebten Motiven wiederverwendet – die Wappen der jeweiligen Stifter wurden dann individuell angepasst. Bei unserem Blatt wurde ein Wappen probehalber in den Scheibenriss eingezeichnet. Handschriftlich wurde für oder von dem Glasmaler notiert, welche Farben er für die einzelnen Bereiche des Wappens verwendet soll: die Sterne gelb, die Baumkrone grün, der Grund blau und die drei Hügel grau.
Wie unser Blatt von Jos Murer weisen viele Scheibenrisse eine mittige Vertikal- und Horizontalfaltung auf, die bei verschiedenen Arbeitsschritten eingesetzt wurden. Zunächst konnte diese Faltung dem entwerfenden Zeichner helfen, die vertikale und horizontale Mittelachse sowie das Zentrum des Blattes zu ermitteln. Der Glasmaler nutze dann vor allem die nach hinten geknickte Vertikalfaltung. Bei lediglich halbseitig ausgeführten Rissen konnte er das Blatt entsprechend falten und mit Hilfe einer Lichtquelle die fehlende Blatthälfte leicht abpausen. Die Falten dienten aber auch als wichtige Orientierungslinien um Scheibenrisse zu kopieren und damit den Motivvorrat in der eigenen Werkstatt zu erweitern. Von dieser Praxis zeugen eindrücklich zwei nahezu identische Scheibenrisse, die jeweils König Josua bei der Zerstörung der Götzenbilder zeigen. Die mittige Vertikal- und Horizontalfaltung verläuft bei dem Original von Niklaus Manuel (1484–1530), das sich heute im Kupferstichkabinett des Kunstmuseum Basel befindet, exakt an denselben Bildpunkten entlang wie bei der Kopie eines unbekannten Künstlers, die heute in der Graphischen Sammlung ETH Zürich aufbewahrt wird.
Der Schwur der Eidgenossen
Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch unser Blatt von Jos Murer kopiert und für mehr als eine Scheibe verwendet wurde, zeigt es doch Motive, die bis heute allen Schweizern geläufig sind: In der Hauptszene ist der Schwur der Drei Eidgenossen zu sehen, das legendäre Ereignis, auf das die Gründung der Eidgenossenschaft zurückgeführt wird. Die Namen der drei Gründungsväter der Schweiz stehen auf kleinen Täfelchen über ihren Köpfen: In der Mitte Wilhelm Tell von Uri mit langem Bart, links Werner Stauffacher von Schwyz, rechts der Landmann von Altsellen aus Unterwalden. In dem Bildfeld unterhalb des Architravs ist der Apfelschuss von Wilhelm Tell in Anwesenheit von Landvogt Hermann Gessler (rechts) auf seinen Sohn Walter zu sehen (links). Im Oberlicht sind im linken Zwickel die Schlacht am Morgarten 1315 und rechts jene von Dättwil in der Nähe von Baden im Jahr 1351 dargestellt.
Scheibenrisse hautnah erleben
In der Zentralbibliothek Zürich werden in der Ausstellung «Ins Licht gezeichnet. Scheibenrisse von Amman bis Füssli» noch bis zum 2. Juli 2022 hochkarätige Scheibenrisse gezeigt, darunter auch unser Blatt von Jos Murer. Für die Ausstellung haben die Graphischen Sammlungen der ETH Zürich, des Kunsthaus Zürich, der Zentralbibliothek Zürich sowie des Schweizerischen Nationalmuseum zusammengearbeitet, um gemeinsam die schönsten Stücke aus ihren Scheibenrissbeständen der Öffentlichkeit zu präsentieren.