Zwei Meisterinnen des Farblinolschnittes
Als sich Lill Tschudi (1911–2004), die grosse Schweizer Linolschneiderin, 1929 an der Grosvenor School in London für den Linolschnittkurs einschreibt, so hat dies in erster Linie mit ihrem künstlerischen Vorbild zu tun. Auf einer ihrer Reisen mit ihrer Mutter und Schwester weilt die junge Glarnerin einmal in Antwerpen und besucht dort den Königlichen Zoologischen Garten. In einer Ausstellung sieht sie hier zum ersten Mal die farbenprächtigen Werke der populären österreichischen Tiermalerin Norbertine Bresslern-Roth (1891–1978) und ist von der üppigen Szenerie und exotischen Fauna auf den Darstellungen auf Anhieb tief beeindruckt.
Die aus Graz stammende Norbertine Bresslern-Roth ist einerseits durch die Kunst in Wien um 1900 geprägt: Das Postulat der Flächenkunst und das organisch-vegetabile Formenrepertoire des Jugendstils, die Bedeutung von Umriss und Ornament sind in ihren ansprechenden Werken omnipräsent. Andererseits verarbeitet sie in ihren Motiven auch Eindrücke von ausgedehnten Reisen, nimmt Anleihen beim japanischen Holzschnitt und bei prähistorischer Kunst. Der sich mit einem elastischen Sprung über seine Beute hermachende Panther in Überfall (1922) gemahnt mit den in alle Richtungen auseinanderstäubenden Gazellen an die etwas schematische Ausgestaltung von Tieren in der Höhlenmalerei, wobei neben dem bedrohlich leuchtenden Blut vor allem die ungewöhnlich wirkungsvolle Formung der Grashalme die dramatische Spannung der Szene unterstreicht.
Alte Bekannte
Sind die ersten druckgrafischen Blätter von Bresslern-Roth noch in Schwarz-Weiss gehaltene Holzschnitte, bedient sie sich ab 1921 vorwiegend der Technik des Farblinolschnittes. Auf diesem Gebiet bringt es die Künstlerin unbestreitbar zu Glanzleistungen. Mit ihren zahlreichen Bildschöpfungen feiert sie rasch Erfolge, auch in England wird ihr Werk wahrgenommen. Ab 1925 erscheinen ausführliche Porträts der Künstlerin und Werkbeschreibungen ihrer Druckgrafik in den einschlägigen Zeitschriften; 1929 stellt sie in der Victoria and Albert Gallery aus und das British Museum erwirbt im gleichen Jahr Grafikserien von ihr. Es ist deshalb höchst wahrscheinlich, dass Tschudi im Rahmen ihrer Ausbildung in London wieder mit dem Werk der Österreicherin in Berührung kommt – und sich von ihrer aussergewöhnlich virtuosen Beherrschung des Farblinolschnittes leiten lässt. In den Blättern wimmelt es geradezu von Tieren aus allen Kontinenten, die österreichische Grafikerin weiss das Getier in raffinierten Arrangements zu porträtieren, sie lässt die durchkomponierten Gruppenbilder in dramatischem Licht und reizvoll aufeinander abgestimmten Farbklängen leuchten.
Grosses Vorbild für eine grosse Meisterin
Tierdarstellungen kommen zwar auch in Tschudis späteren Arbeiten vor, sie spielen aber in ihren Motiven eine untergeordnete Rolle. Es ist also weniger die Thematik, die sie bei den Werken von Bresslern-Roth dauerhaft zu inspirieren vermag. Neben der Technik gibt es weitere wesentliche Bezüge zu ihrem Vorbild. So hinterlässt auch die überaus effektvolle Komposition der Tierbilder einen offensichtlich nachhaltigen Eindruck. Tschudis eigene Werke überzeugen mit einer ähnlichen Klarheit in Form, Ausdruck und Inhalt der Komposition. Wie Bresslern-Roth verwendet Tschudi oft beinahe quadratische Formate, in denen ein ganzes Liniennetz eine geballte Kraft an Dynamik entwickelt. Der Bildgrund ihrer Linolschnitte ist ähnlich ausgewogen gestaltet und stets mit neuen Akzenten versehen, keiner gleicht dem anderen. Die szenenhaft angelegten Motive sind prall gefüllt und sprühen vor Leben. Der Blick flattert von den geschickt gesetzten Brennpunkten, changierenden Farbflächen und gezackten Linien hin und her. Hier entwickelt sich ein ausgeprägtes Talent zur vollendeten Meisterschaft!
Literatur: Christa Steinle, Norbertine Bresslern-Roth. Tiermalerin, Graz: Leykam, 2016
Vorschau Ausstellung in der Graphischen Sammlung ETH: «Lill Tschudi. Die Faszination des modernen Linolschnitts», (01. – 23.12.2021 und 03.01.– 13.03.2022)