Ein Gespenst geht um in Frankreich: Honoré Daumiers Lithographien für «La Caricature»

In seinem umfangreichen druckgraphischen Werk – bestehend aus über 4’000 Lithographien und 1’000 Holzschnitten – spiegelt Honoré Daumier (1808-1879) wie kein anderer das Frankreich des 19. Jahrhunderts. Mit ihren politischen und sozialkritischen Inhalten sorgten vor allem seine Karikaturen für Furore – und begeistern bis heute durch ihre künstlerische Qualität, verbunden mit raffiniertem Bildwitz.

Abb.1: Honoré Daumier, Le Fantôme…, Blatt aus «La Caricature», Nr. 235, 7. Mai 1835, Kreidelithographie, 350 x 256 mm, Graphische Sammlung ETH Zürich.

La Caricature
Grosse Verbreitung und Bekanntheit erreichten die satirischen Werke durch Daumiers Zusammenarbeit mit dem Verleger Charles Philipon (1800-1861), für dessen Zeitschriften «La Caricature» und «Le Charivari» er im Laufe seines Lebens tausende von Karikaturen schuf. Insbesondere die politisch pointierten Illustrationen in «La Caricature» zeugen von der zentralen Rolle künstlerischer Interventionen im Kampf um die Pressefreiheit. Daumier gehörte mit seiner Verspottung zeitgenössischer Politiker und Ereignisse zu seinen wichtigsten Protagonisten. Das war nicht ungefährlich: Seine Karikatur des Bürgerkönigs Louis-Philippe (1773-1850) als unersättlicher Gargantua brachte ihm 1935 sogar eine halbjährige Gefängnisstrafe ein.

Abb. 2: Honoré Daumier, Le Fantôme…, Detail, Blatt aus «La Caricature», Nr. 235, 7. Mai 1835, Kreidelithographie, 350 x 256 mm, Graphische Sammlung ETH Zürich.

Das Gespenst des Maréchal
Am 7. Mai 1835 erschien in der Zeitschrift «La Caricature» eine besonders geheimnisvolle Karikatur (Abb. 1) . Sie ist Beispiel dafür, wie Daumier brandaktuelle Ereignisse in einer raffiniert subversiven Symbolsprache verarbeitete: Im Dunkel der Nacht stellt der Künstler eine riesige, in weisse Laken gehüllte Gestalt auf einer menschenleeren Strasse dar. Ihre Aufmerksamkeit ist auf das Schild über einem Torbogen gerichtet, das sie heimlich überschreibt. Die Szene wird von drei sternförmigen Lichtern erhellt, die über dem Kopf der Figur die Buchstaben «NEY» ergeben (Abb. 2).
Der Titel des Werks – Le Fantôme… – gibt keine Hinweise auf den Inhalt, jedoch ermöglichen die Bildelemente sowie das Datum der Veröffentlichung die Entschlüsselung der Karikatur. Das Gespenst verkörpert den berühmten Offizier Michel Ney (1769-1815), der von Napoleon Bonaparte (1769-1821) im Ersten Kaiserreich (1804-1815) zum Maréchal d’Empire ernannt wurde. Nachdem Ney Napoleons erneute Machtübernahme während der Herrschaft der Hundert Tage unterstützte, wurde er nach dessen Absetzung im Palais de Luxembourg inhaftiert, vom Oberhaus des französischen Parlaments (der Pairskammer) zu Tode verurteilt und am 7. Dezember 1815 im Schlosspark erschossen.
Zwanzig Jahre später von den Toten auferstanden, rächt sich der Geist des Offiziers in Daumiers Karikatur an der Pairskammer, indem er den Palais du Luxembourg in «Palais des Assassins» umbenennt.

Abb. 3: Honoré Daumier, Rue Transnonain, le 15 avril 1834, 1834, Lithographie, 287 x 443 mm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

Der «Monsterprozess»
Dass Daumier das gerichtliche Todesurteil gegen den Maréchal zwanzig Jahre nach dem Vollzug als Mord darstellt, erklärt sich aus den Zeitumständen. Ein Jahr vor der Veröffentlichung von Le Fantôme… war es im Rahmen der Aprilunruhen in Lyon und in Paris zu massiven Ausschreitungen gekommen. Auslöser der Unruhen in der Hauptstadt waren vor allem die gesellschaftlichen Spannungen um die Pressezensur. Die Situation eskalierte am 14. April 1834 und führte zu einem Blutbad, das auch Daumier in einer seiner berühmtesten Lithographien festgehalten hat (Abb. 3).
Ein Jahr später wurden die 163 gefangen genommenen Aufständischen in Paris im berühmten «Monsterprozess» vor die Pairskammer gestellt. Der Prozessverlauf wurde vehement kritisiert, unter anderem hielt der angeklagte Revolutionär Charles Lagrange (1804-1857) eine feurige Rede. Er verglich das Vorgehen der Pairskammer mit dem «Justizmord am Maréchal Ney» zwanzig Jahre zuvor. Diesen Vergleich nimmt Daumiers Karikatur auf und setzt damit ein hochaktuelles Thema in seinem Werk um. Die überwiegend aus dem begüterten Bürgertum bestehende Leserschaft von «La Caricature» erkannte dies sofort.
Sowohl die Angeklagten des «Monsterprozesses» als auch die Karikaturisten verloren 1835 vorerst den Kampf gegen die Regierung. Die Verschärfung des Pressegesetzes vom 29. August 1935 bedeutete das Aus für «La Caricature» und 40 weitere «radikale» Zeitungen. Daumiers Lithographie C’était vraiment bien la peine de nous faire tuer! (zu Deutsch: Es hat sich wirklich gelohnt, uns alle umzubringen!) kündigte das Ende der Zeitschrift an (Abb. 4).

Abb. 4: Honoré Daumier, C’était vraiment bien la peine de nous faire tuer!, Blatt aus «La Caricature», Nr. 251, 27. August 1835, Kreidelithographie, 256 mm x 343 mm, Graphische Sammlung ETH Zürich.


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