Architekturprofile

Johannes Gachnang (1939 – 2005), L’imagination prend le pouvoir, Blatt 4 der Folge «Die neue historische Architektur des Johannes Gachnang. Das byzantinische Buch», 1968, Zinkradierung auf Velin, 39/60, Graphische Sammlung ETH Zürich

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Die beiden Radierungen sind sich erstaunlich ähnlich: Beide bilden ein Sammelsurium von Elementen der klassischen Architektur ab, die in einem Rahmen eingefasst und arrangiert wurden. Die Kombination dieser Fragmente erscheint sowohl als grafische Fingerübung, bei der architektonische Motive eine Komposition aus orthogonalen und diagonalen Elementen bilden, wie auch als eine perspektivische Darstellung von Gebäudefragmenten, die zu einer unrealistischen Konstruktion zusammengefügt wurden. Die eine scheint einen Ausschnitt eines fiktiven Gebäudedetails zu zeigen, die andere eine Ansicht von sich überlagernden Gebäuden.

Aus verschiedenen Jahrhunderten

Trotzdem könnte ihr Ursprung unterschiedlicher nicht sein. Das erste Bild ist ein Blatt aus Die neue historische Architektur von Johannes Gachnang. Das Byzantinische Buch, welches 1968 veröffentlicht wurde. Gachnang war ein gelernter Hochbauzeichner und hatte unter anderem für Hans Scharoun (1893 – 1972), den Architekten der Staatsbibliothek und der Philharmonie in Berlin, gearbeitet. Parallel dazu begann er als Radierer und später auch als Kurator tätig zu sein. Seine Radierung ist Teil einer Serie von fiktiven Kompositionen, die durch einen Aufenthalt in Istanbul inspiriert wurden.
Das zweite Bild stammt aus einer fünfbändigen Publikation. Sie ist den Gemälden gewidmet, die in Herculaneum, der römischen Stadt, die von der Lava des Vesuvs verschüttet wurde, gefunden wurden. Nach ihrer Entdeckung im frühen 18. Jahrhundert wurde die Stätte von Archäologen unterschiedlichster Richtungen erforscht, stets unter der Ägide des Königs von Neapel. So ist Le pitture antiche d’Ercolano Teil der Mitte des 18. Jahrhunderts unternommenen Bemühungen, die an dieser und anderen Stätten wie Pompei und Paestum zutage getretenen neuen antiken Spuren zu dokumentieren. Sie bereicherten das allgemeine Verständnis der Kunst und Architektur des römischen Altertums – und verkomplizierten es zugleich.

Ottavio Anttonio Baiardi, Pasquale Carcani, Le pitture antiche d’Ercolano contorni incise con qualche spiegazione, Band 3, 1757, Graphische Sammlung ETH Zürich

Konzentration auf Architekturelemente

Kurz gesagt ist die Radierung von Gachnang ein modernes Kunstwerk, während die andere die historische Aufzeichnung einer wissenschaftlichen Unternehmung ist. Auch wenn dies die beiden Bilder zunächst voneinander zu unterscheiden scheint, deutet es doch auch auf eine Verwandtschaft hin. Denn Gachnangs künstlerische Erfindung zeigt ein grosses Bewusstsein für die Tradition, in die das Bild von Herculaneum eingebettet ist. Das von Gachnang mit äusserster Sorgfalt verwendete Medium der Radierung verweist auf Vorbilder wie die hier gezeigte Radierung, die auf eine möglichst genaue Wiedergabe von Artefakten abzielt. Noch deutlicher wird die Anspielung auf diese Tradition im Titel der Serie, der paradox und ironisch anmutet: „neue historische Architektur“. Ist eine „neue historische Architektur“ nicht genau das, was der Druck von Herculaneum zeigt: eine bisher unbekannte historische Architektur, die nun durch das Medium des Drucks zugänglich gemacht wird?

Bedeutet dies, dass die in beiden Radierungen dargestellten Beispiele gleichermassen plausibel oder unplausibel sind? Das Merkmal, das vielleicht am meisten zu dieser Verwirrung beiträgt, ist die den beiden Bildern eigene Betonung von architektonischen Ornamenten und insbesondere von Profilen. Die Drucke stellen weder Gebäude in ihrer Gesamtheit noch Pläne und Schnitte dar. Sie beschränken sich vielmehr auf die Materialität und die Ausarbeitung der Elemente, aus denen diese Gebäude zusammengesetzt sind. Denn genau dort verorten beide Radierungen den Raum der Erfindung und Konstruktion.

So scheinen sie beide in Form einer Druckgraphik auf etwas eminent Architektonisches hinzuweisen.

Gastautor: Prof. Dr. Maarten Delbeke, Professur für Geschichte und Theorie der Architektur ETH Zürich, und Ko-Kurator der Ausstellung „Die unterschätzte Horizontale. Das Gesims in Kunst und Architektur“ in der Graphischen Sammlung ETH Zürich (25. August – 14. November 2021)

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Architectural profiles
The two etchings are strikingly similar. A jumble of elements of classical architecture, arranged in a frame. The collection of fragments appears at once as a graphical exercise, where architectural motifs flesh out a composition of orthogonal and diagonal elements, and as a perspectival representation of building fragments, brought together in an implausible construction. One appears to provide a close-up of a fictional building detail, the other a view of superimposed buildings.

From different centuries
Still, their provenance could not be more different. The first image is a sheet from Die neue historische Architektur von Johannes Gachnang. Das Byzantinische Buch, published in 1968. Gachnang was trained as an architectural draughtsman and had worked amongst others for Hans Scharoun (1893 – 1972), the architect of the Staatsbibliothek and Philharmonie in Berlin. In parallel he developed a practice as an etcher and later as a curator. This piece is part of a series of fictional compositions inspired by a stay in Istanbul. The second image can be found in a five-volume publication dedicated to the paintings discovered in Herculaneum, the Roman city covered under the lava of the Vesuvius. After its discovery in the early 18th century, the site was eagerly explored by archaeologists of various stripes working under the aegis of the King of Naples. As such, Le pitture antiche d’Ercolano forms part of the mid-18th century attempts to document the new vestiges of antiquities that came to light in this and other sites such as Pompei and Paestum, which enriched and complicated the common understanding of the art and architecture of Roman antiquity.

Concentration on architectural elements
In short, Gachnang’s etching is a modern piece of art, while the other is the historical record of a scientific enterprise. If this at first seems to set the images apart, it also suggests a filiation. Gachnang’s artistic invention shows great awareness of the tradition of which the Herculaneum image forms part. By adopting the medium of the etching, and applying it with such meticulous care, Gachnang refers to precedents such as the one shown here, etchings aimed at rendering artifacts with the greatest possible accuracy. The allusion to this tradition is even more explicit in the title of the series, with the seemingly paradoxical and ironic “neue historische Architektur.” Isn’t a “new historical architecture” exactly what the Herculaneum print shows: a previously unknown historical architecture, now made available through the medium of print?

Does this imply that the examples provided by both etchings are equally plausible or implausible? The feature that perhaps contributes most to this confusion is the shared emphasis on architectural ornaments, and more particular profiles. The prints do not show buildings as a whole or plans and sections, but put forward the materiality and articulation of the elements from which these buildings are composed. It is there that both prints situate the realm of invention and construction.

And as such, in the realm of the printed page, together they seem to hint at something eminently architectural.

Guest writer: Prof Dr Maarten Delbeke, Chair of the History and Theory of Architecture ETH Zürich, and Co-Curator of the exhibition „The Hidden Horizontal. Cornices in Art and Architecture“ at Graphische Sammlung ETH Zürich (25 August – 14 November 2021)


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