Die Zeugenschaft der Blumen: Zu einem Blatt aus Käthe Kollwitz Serie Bauernkrieg
Vielschichtige Symbolik und verklausulierte Anspielungen in Kunstwerken zu erläutern, gehört zu meinen typischen Aufgaben als Kunsthistorikerin. Aber was soll und was darf man über Bilder schreiben, deren Bildsprache so universell, unmissverständlich und direkt ist, dass sie eigentlich keiner akademischen Interpretation bedürfen? Ist es gar ein Sakrileg, wie manche behaupten, sich über sie zu äussern?
Vergangene Woche fiel mir ein Blatt der Künstlerin Käthe Kollwitz (1867–1945) in die Hände. Unerwartet gross, ganze 45 x 64 cm, lag es vor mir und tat genau das, was die Werke dieser Ausnahmekünstlerin gemeinhin tun: es berührte und es verlangte nicht danach mitgedacht zu werden, nein, es wollte mitgefühlt werden.
Es war das zweite Blatt von Kollwitz siebenteiliger Serie Bauernkrieg (Abb. 1). In einem Garten zwischen Kohlköpfen und prächtigen Sonnenblumen liegt mit heruntergerissenem Kleid, verdrehtem Kopf und gespreizten Beinen der leblose Körper einer Frau. Der kaputte Zaun und die abgeknickten Blumen sind weitere Spuren des gewaltsamen Eindringens, welches an diesem sonst so idyllischen Ort vor kurzem stattgefunden haben muss. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man, dass man nicht der einzige Zeuge der grausamen Szenerie ist. Zwischen den Sonnenblumen, hinter dem Zaun, ist der Kopf eines Kindes zu sehen, das stumm hinabblickt (Abb. 2).
Nein, dieses Bild von Kollwitz muss weder übersetzt noch erklärt werden. Wer es sieht, weiss es. Als Kunsthistorikerin bleibt mir, dafür zu sorgen, dass dieses Werk nicht in Vergessenheit gerät und zu berichten, was über die Umstände seiner Entstehung bekannt ist.
Bauernkrieg
Kollwitz Serie Bauernkrieg entstand zwischen 1899 und 1908 und bezieht sich auf den grossen deutschen Bauernkrieg im 16. Jahrhundert. Kollwitz selbst schrieb, dass sie durch die Lektüre der Allgemeinen Geschichte des grossen Bauernkriegs von Wilhelm Zimmermann (Stuttgart 1841/43) zu ihrer Arbeit angeregt wurde. Es ist nicht das erste Mal, dass Kollwitz ein historisches Beispiel revolutionären Aufbegehrens als Bildthema wählt, das ihr zuvor in einem literarischen Werk begegnet ist. Ihr berühmtes Erstlingswerk Ein Weberaufstand (1893– 97) wurde durch Gerhart Hauptmanns Bühnenstück Die Weber angeregt und das Blatt La Carmagnole von 1901 (Abb. 3), das eine Szene der französischen Revolution zeigt, wurde mit einer Passage aus Charles Dickens Roman A Tale of Two Cities in Zusammenhang gebracht.
Jedoch handelt es sich keineswegs um historisch präzise Darstellungen. Vielmehr dienen die Bezüge zur Vergangenheit als universelle Folie, um das Leid und die Not der Arbeiterklasse ihrer Gegenwart zu verbildlichen.
Kollwitz künstlerischer Anspruch
Der ungebrochene Ruhm von Käthe Kollwitz basiert aber nicht nur auf ihrem menschlichen Engagement, sondern auch auf ihrem hohen künstlerischen Können. Kollwitz Neugierde alle Möglichkeiten und Verfahren der Druckgraphik zu beherrschen, um sie gezielt für ihr künstlerisches Wollen einsetzen zu können, zieht sich wie ein roter Faden durch die bewundernden Kommentare zu ihrem Werk. Die Blätter der Serie Bauernkrieg sind dafür exemplarisch. Immer wieder überarbeitete sie die Platten und kombinierte mehrere Verfahren, in diesem Fall etwa drei verschiedene Ätztechniken: Nadelätzung, Weichgrundradierung und Aussprengverfahren.
So verwundert es nicht, dass die beiden bedeutenden Kunsthistoriker und Direktoren der Kupferstichkabinette in Berlin und Dresden – Max Friedländer und Max Lehrs – schon früh Kollwitz Werke erwarben und die Künstlerin aktiv förderten. Die Graphische Sammlung ETH Zürich besitzt vergleichsweise wenige Blätter der einflussreichen Graphikerin. Auch die Serie Bauernkrieg ist unvollständig. Neben dem obengenannten zweiten Blatt, ist lediglich das erste Blatt Die Pflüger (Abb. 4) vorhanden.
Pingback: “Losbruch” von Käthe Kollwitz – Lisa's GER312 Portfolio