Ein wiederentdeckter Schatz

Man vergisst leicht, wie strapaziös und risikoreich in früheren Zeiten die Erwanderung der Alpen war. Im 18. Jahrhundert gab es weder Bergbahnen noch hochtechnisierte Ausrüstungen, und jeder, der die Alpen erkundete, brauchte Kondition und Mut. Über beides verfügte Hans Conrad Escher von der Linth (1767-1823). Seine Expeditionen ins Gebirge hielt er in Hunderten von kolorierten Federzeichnungen fest. 700 davon befinden sich in der Graphischen Sammlung ETH Zürich.

 

Hans Conrad Escher von der Linth war ein vielseitig Begabter. Als Sohn eines Textilfabrikanten arbeitete er vorerst im väterlichen Geschäft, nahm aber schon früh beim Zürcher Künstler Johann Balthasar Bullinger (1713-1793) Zeichnungsunterricht. Er widmete sich naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien, vertiefte sich in Statistik und begann, sich politisch zu engagieren. Berühmt geworden ist er für die Korrektion der Linth, deren Gelingen ihm posthum die ehrenvolle Ergänzung seines Namens brachte. Doch gab er auch wichtige Impulse zur Etablierung der Geognosie in der Schweiz – der Lehre von der Struktur und dem Bau der festen Erdkruste.

Hans Conrad (von der Linth) Escher, Pointe d’Otemma Panorama, 7.8.1820, Aquarellierte Federzeichnung auf Velin, 20.6 x 145.3 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich

Aufschlussreiche Bergpanoramen
Ab 1791 unternahm Escher regelmässig Exkursionen in die Alpen, um ihre geologischen Formen, Schichten und Verwerfungen zu erforschen. Die Beobachtungen hielt er in seinen Reiseberichten «Fragmente über die Naturgeschichte Helvetiens» fest, die schliesslich über 1’500 (!) Seiten umfassten. Mindestens so wichtig waren seine Zeichnungen, die er im Gebirge anfertigte. Er nahm ein dünnes, jedoch festes pauspapierartiges Papier mit auf seine langen Wanderungen, weil er es gerollt transportieren konnte und es wenig Gewicht hatte. Vor Ort skizzierte er die Berge und Gletscher auf diesen feinen Blättern. Wieder zu Hause zog er sie auf eine stärkere Unterlage auf und überarbeitete sie mit Feder und Aquarell. Auf diese Weise sind hunderte von Ansichten entstanden, die sowohl topografisch genau wie auch künstlerisch durchgearbeitet sind. Besonders wichtig war Escher das Panorama: Mit diesem Breitformat konnte er die Gebirgszüge umfassend darstellen, und er schuf in der Schweiz so viele davon wie keiner vor ihm. Aufgrund seines Fachwissens, seiner genauen Beobachtungsgabe auf den Exkursionen und seiner Zeichnungen konnten viele Theorien zur Entstehung der Alpen ergänzt oder gar korrigiert werden.

Hans Conrad (von der Linth) Escher, Col de la Seigne, 1.8.1820, Feder in Schwarz, Aquarell und Bleistift auf Velin, Blattgrösse: 20.4 x 69.7 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich

Einzigartiger Bestand
Conrad Escher vermachte die geognostischen Zeichnungen und Terrainstudien seinem Sohn Arnold Escher (1807-1872), der von 1856-1872 Professor für Geologie am Polytechnikum (heute ETH Zürich) war. Dieser überliess die Darstellungen der ETH, worauf sie geordnet und im Schrank des Geologischen Instituts deponiert wurden. Erstaunlicherweise gerieten die rund 700 Blätter daraufhin in Vergessenheit. Ihre Wiederentdeckung ist der Neugierde des böhmischen Kunsthistorikers Gustav Solar zu verdanken: Er hatte 1971 den Schrank geöffnet und ihren Wert erkannt. Heute gehören sie zur Graphischen Sammlung und bilden ein einzigartiges wissenschaftlich-künstlerisches Konvolut zu den Schweizer Alpen.

Hans Conrad (von der Linth) Escher, Colle Valdobbia Aussicht West, 28.7.1797, Feder in Schwarz und Aquarell auf Papier vergé, 11.6 x 50.7 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich

Diese Werke werden in der Ausstellung «Von Dürer bis Andy Warhol. Highlights aus der Graphischen Sammlung ETH Zürich» im Museo d’arte della Svizzera italiana (MASI) in Lugano MASI vom 10. September 2023 – 7. Januar 2024 zu sehen sein.

Alle hier abgebildeten Werke und viele mehr entdecken Sie in unserem Sammlungskatalog Online: Sammlungskatalog Online – Graphische Sammlung ETH Zürich

Tagesschau Beitrag – 200. Todestag von Hans Conrad Escher von der Linth


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