Faszination Blau
Bei den einen ist die Pflanze als Rauschmittel beliebt, bei anderen wiederum als Heilmittel geschätzt. Die Schweizer Künstlerin Daniela Keiser hat Abbildungen von Cannabis im Internet gesammelt. In einem mehrstufigen Prozess setzte sie diese Bilder in der fotografischen Technik der Cyanotypie um, woraus Kunstwerke aus fein nuancierten Blautönen entstanden sind.
Dass sich Daniela Keiser (*1963) mit einer Pflanze beschäftigt, die ganz unterschiedlich bewertet wird, ist typisch für ihre künstlerische Herangehensweise. Sie interessiert sich bei Objekten und Themen nicht für das Schwarz-Weiss, sondern für die Zwischentöne, das Mehrdeutige, für unterschiedliche Perspektiven und Vorstellungen. So auch bei Cannabis. Schon im 5. Jahrhundert v. Chr. berichtete der griechische Geschichtsschreiber Herodot, dass sich die Skythen – ein Stammesverband nomadischer Reitvölker aus den eurasischen Steppen – von Hanf berauschen liessen. Und bekanntlich lassen sich viele Menschen bis heute davon betören. Zudem wird aus den Samen von Cannabis Speiseöl gewonnen und aus seinen Fasern nicht nur Säcke, Seile, Kleider, sondern sogar Papier hergestellt. Seine heilende Wirkung erfuhr gerade in jüngerer Zeit eine verstärkte Wertschätzung. Nicht zuletzt aufgrund dieser mehrschichtigen Verwendung und Beurteilung der Pflanze nimmt Keiser sie zum Motiv für eine 40-teilige Serie.
Ein Verfahren aus der Gründerzeit der Fotografie
Ausgangspunkt für Keisers Werkgruppe ist ihre mehrjährige Beschäftigung mit einer Technik aus der Anfangszeit der Fotografie. Sir John Herschel (1792-1871), ein Mathematiker und berühmter Astronom, entwickelte die Cyanotypie – angetrieben von der Frage, wie man Farbe in die Fotografie bringen könnte. Auch wenn ihm die Verwirklichung dieses Traums nicht gelang, so ermöglichte die Technik, nuancierte Blautöne auf einen Bildträger zu fixieren. Das Verfahren ist einfach: Objekte werden auf ein Papier gelegt, das mit einer eisenhaltigen Emulsion bestrichen und im Dunkeln getrocknet worden ist. Setzt man alles einige Minuten dem Licht aus, verfärben sich die nicht abgedeckten Stellen. Das anschliessende Auswaschen im Wasser stoppt den Belichtungsprozess und verleiht der Schicht ihre typisch blaue Farbe. Die Engländerin Anna Atkins (1799-1871) wurde auf das Verfahren aufmerksam und verwendete es als erste überhaupt in einem Buch mit dem Titel British Algæ. Cyanotype Impressions (1843). Zwar gerieten Atkins und ihre bahnbrechende Publikation bald in Vergessenheit, doch wurden sie in den 1980er- und 1990er-Jahren wiederentdeckt. Jüngst auch von Keiser, die die Technik jedoch ins Hier und Jetzt überführt. Sie verwendet digitale eigene Fotografien oder – wie hier – gefundene Abbildungen aus dem Internet und schafft daraus in einem mehrstufigen Prozess Cyanotypien.
Malerische Unschärfe
Keiser zeigt das Gewächs in Nahansicht und vom Bildrand angeschnitten, sodass man ihre unterschiedlichen Blatt- und Blütenformen erkennen kann. Typisch für Cyanotypien ist ihre malerisch anmutende Unschärfe, und auch die Hanfpflanzen scheinen beinahe geisterhaft aus dem Blau hervorzutreten. Oder sind sie umgekehrt dabei, darin zu verschwinden?
Eine Auswahl der Serie ist bis 29. Juni 2022 in der Ausstellung «Blue Links. Cyanotypes. Daniela Keiser» zu sehen.