Kaleidoskopische Collagen
Täglich blätterte die österreichisch-schweizerische Künstlerin Elisabeth Wild (1922–2020) in einem beinahe meditativen Prozess durch Mode-, Kunst- und Architekturzeitschriften, stets auf der Suche nach brauchbarem Material für ihre spannungsvollen Bildarrangements. Ausgestattet mit einer Schere nahm sich Wild der glamourösen Scheinwelt der Hochglanzmagazine an und collagierte ausgewählte Bildfragmente zu neuen künstlichen Bildwelten. Lose Papierflächen, bunt bedruckt und wesensfremd, fügte sie mit traumwandlerischer Sicherheit zu fantasievollen Gesamtkompositionen.
2020 kaufte die Graphische Sammlung ETH Zürich eine Gruppe von sechs Collagen an. Es ist ein veritables Alterswerk: die Künstlerin, die seit 1996 in Guatemala lebte, war bei der Entstehung bereits 97-jährig. Dank ihrer leuchtenden Farbkombinationen und ausdrucksstarken Formen strahlen die Werke viel Energie und Lebendigkeit aus. Es ist erstaunlich, mit welch einfachen Mitteln eine dreidimensionale Qualität erreicht wird: Wenige Papierschnipsel, die meist symmetrisch auf einer planen Fläche angebracht sind, fügen sich zu fantastischen, räumlich wirkenden Bildwelten zusammen. Futuristisch und postmodern zugleich erinnern die Konstruktionen mitunter an die gebaute Architektur von Hans Hollein.
Eigenwilliger Bilderkosmos zwischen Wirklichkeit und Illusion
Doch so sehr Wilds Collagen als architektonische Strukturen lesbar sind, sie bleiben von der Wirklichkeit stets seltsam entrückt. Mit ihrem Bilderkosmos, dessen kombinierte Versatzstücke ganz unterschiedliche Massstäbe aufweisen, unterläuft die Künstlerin perspektivische Gesetze der realen Welt und kreiert gleichsam «Bauwerke», die einer ganz eigenen Raumlogik folgen. Darin entfaltet sich eine visuelle Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann. Rahmungen, Rundbögen, Türen und Fenster laden dazu ein, sie gedanklich zu durchschreiten. Immer weiter dringt der Blick so durch Schichten und Ebenen hindurch, als würde sich unter unseren Füssen ein Laufband in Bewegung setzen oder als sässen wir in einem imaginierten Gefährt, das uns immer tiefer in Wilds kaleidoskopische Galaxien hineinmanövriert, um uns am Ende der Fahrt wieder in die eigene Realität zurück zu katapultieren.
Zusammentreffen verschiedener Realitäten
Der deutsche Künstler Max Ernst (1891–1976) beschrieb die Collage-Technik einst als «systematische Ausbeutung des zufälligen, aber künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu geeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.» Tatsächlich haben Wilds Collagen – sie nennt sie Fantasías – eine poetische Komponente. Sie dienen uns als Tor zu einer anderen Welt, die uns, voll des Unbekannten, Rätselhaften und Verborgenen, immer wieder neu zu faszinieren vermag.
Die Werke können Sie in unserem Sammlungskatalog Online einsehen.