Wanderlust!

Seit Beginn der Corona-Pandemie vor einem Jahr habe ich nur einmal in einem Flugzeug gesessen. Das für mich selbstverständliche Reisen – für Vorträge, für Forschungen, für Ferien – ist zu einem raren Gut geworden. Die Menschen bewegen sich nicht nur weniger weit als vor einem Jahr. Sie scheinen auch langsamer zu gehen, müder und beschwerter. Auch ich spüre ein Gefühl der Lähmung. Auf Spaziergängen in die Umgebung denke ich ans Meer und die Wüste. Ich blicke den Kondensstreifen von Flugzeugen nach. In Büchern und am Computer begebe ich mich auf Lehnstuhl-Reisen. Vielleicht stach mir deshalb beim Stöbern durch den Online-Sammlungskatalog der Graphischen Sammlung ein Werk von Martin Schongauer ins Auge.

Martin Schongauer, Auszug zum Markt, 1469 – 1474, Kupferstich, 17.3 x 17.0 cm, Graphische Sammlung ETH Zürich

Das quadratische Bildchen aus der Zeit um 1470 ist recht klein, etwas grösser als das Display meines Smartphones. Es zeigt einer Bauernfamilie auf dem Weg zum Markt. Der Bauer, schwer bepackt mit einem Korb und einem Sack über der Schulter, führt sein Pferd. Er trägt ein Schwert, ein Zeichen dafür, dass die Wege über Land damals nicht sicher waren. Auf dem Pferd reiten die Bäuerin und ihr Kind. In der einen Hand hält sie Geflügel, in der anderen eine Rute. Sie folgen einen schmalen Weg, der sich dem Fuss eines Hügels entlang windet. Eine Felsformation – vielleicht ist es auch eine Ruine – krönt den Hügel. Hinter der nächsten Biegung folgt ein Paar zu Fuss. Die Frau trägt einen Korb auf dem Kopf, der Mann hält ein Huhn in den Armen. Sie sind barfuss und deutlich ärmlicher gekleidet als die Familie im Vordergrund. Im Hintergrund sind weitere Figuren vage erkennbar. Rechts im Bild die Dorfkirche, davor ein Ziehbrunnen. Einige weitere Häuser des Dorfs sind angedeutet, eingebettet in sanfte Hügel mit einzelnen Bäumen.

Alles auf dem Bild handelt von Aufbruch und Neubeginn. Alles ist in Bewegung. Der Bauer schreitet kräftig aus, das Pferd ist stark, das Kind ist wach und aufmerksam. Selbst der Ziehbrunnen scheint gerade frisches Wasser aus der Quelle geschöpft zu haben. In der Ferne ist so etwas wie ein drehendes Mühlrad angedeutet. Auch wenn keine Sonne dargestellt ist: Es muss früher Morgen sein. Wie von einem Magneten angezogen bewegen sich die Menschen in Richtung des Marktes in der Stadt.

Neu ist auch das Medium. Es ist ein frühes Beispiel eines Kupferstiches, einer Drucktechnik, die sich gegen Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa allmählich durchzusetzen beginnt, beispielsweise für Spielkarten. Mittels des zuvor gebräuchlichen Holzschnittes wären derart feine Linien undenkbar gewesen. Der Künstler schöpft das Potenzial des Mediums voll aus. Das ganze Bild ist eine Feier der feinen Linien. Die Zügel des Pferdes, die fein verästelte Rute der Bäuerin, der Rosenkranz an ihrem Gürtel, die Haare des Tieres, aber auch die Gräser im Hintergrund, die Steinchen auf dem Weg, die Weidenruten des Zauns, die Seile des Brunnens, die Risse in den Felsen, selbst die Schraffuren, welche die Wiese und den Schattenwurf andeuten – alle diese Elemente stellen nicht nur etwas dar, sie sagen auch: Seht her, so haarfein, so präzise können Linien jetzt gezogen werden!

Neu ist schliesslich auch das Motiv. Schongauer – sein Monogramm steht am unteren Bildrand – hat sich meist religiösen Themen gewidmet. Für diesen Stich hat er das berühmte Motiv der Flucht nach Ägypten mit Joseph, Maris und dem Jesuskind auf dem Esel in eine Szene des damaligen Alltags übertragen.

Die Feinheit der Linien lässt mich immer neue Details erkennen, immer tiefer ins Bild hineinsehen. So wie die Figuren auf dem Bild in Bewegung sind, so streife ich in Gedanken durch das Dorf und das Land und begebe mich auf eine imaginäre Reise durch den Raum und die Zeit. Manches, etwa der Turm der Dorfkirche, ist nur angeschnitten. In meiner Fantasie ergänze ich es, so wie ich mir die Stadt mit ihrem lebendigen Markt vorstelle. Jedes Gehen, jedes Wandern, jede noch so kleine Reise ist ein Aufbruch, ein Neubeginn. Einen Moment lang vergesse ich, wie mir die Flüge fehlen.

 


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